»Es war einmal ein König...« , so fangen viele Märchen an. »Es war einmal ein armer Müller...« , »Es waren drei Brüder...« - immer fängt das Märchen ohne Umschweif vom Menschen zu erzählen an. Und dann wird berichtet, was diesem Menschen geschieht, was ihm an Wunderbarem begegnet, was er erleidet, erstreitet, wie er sich bewähren muss, ehe er endlich Erlösung findet oder das halbe Reich gewinnt. Nie wird da von bestimmten, einmaligen Personen und ihren individuellen Lebensabläufen berichtet - es ist der Mensch schlechthin, der Kluge, der Einfältige, der Starke, der Verkannte, Heldin oder Held; sie alle sind im Märchen unterschiedliche Entfaltungen von uns selbst. Wir sind es selber, von denen das Märchen erzählt.
Oder sind es Figuren in abstrahierter Allgemeingültigkeit? Sind es Rollenträger? Sind es Repräsentanten innerer Vorgänge und Entwicklungen? Wie kommt es, dass wir uns oft bewusst oder unbewusst beim Hören oder selbst noch beim Lesen mit den Märchenhelden identifizieren? Weshalb erleiden die Erzähler und ihre Zuhörer deren wunderbare Erlebnisse wie ihre eigenen mit? Weshalb gehen von den erzählten Geschichten heilsame Wirkungen aus?
Und wenn die Märchen schließen: »und dann lebten sie glücklich und zufrieden, wir aber haben das Nachsehen« oder »und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute«, dann weisen auch diese formelhaften Schlüsse darauf hin, dass nicht ein einmaliges Geschehen in den Märchen geschildert, vielmehr (wie André Jolles einmal formulierte) ein jedesmaliges, ein immer und oft wiederholbares Geschehen um den Menschen vergegenwärtigt wird.
Unterscheidet sich aber der Mensch im Märchen so grundlegend von dem anderer Erzählgattungen, sind so unterschiedliche Erklärungen möglich und tauchen so drängende Fragen über Funktion und Wirkung auf, dann lohnt es sich, das Bild des Menschen im Märchen einmal von verschiedenen Ausgangspunkten näher zu betrachten. Acht Autoren haben das, jeder auf seine Weise, in diesem Sammelbande versucht: der Philosoph Vonessen, der Literaturwissenschaftler Lüthi, der Mythologe Gehrts, die Philologen Lecouteux und Kallenberger, die Übersetzerin Diller und die Dramaturgin Snook. Sie alle zeigen hier nur Teilaspekte auf - doch sie regen an, sich auf das Bild des Menschen zu besinnen.