Auf griechischen Inseln und in ungarischen Dörfern, auf den Dächern spanischer Überlandbusse, aber auch im Ruhrgebiet und anderswo sind die aus verschiedenen europäischen Ländern stammenden Autoren dem Märchen begegnet. Sie haben die Geschichten, ihre Erzähler und Erzählsituationen festgehalten und stellen sie in diesem Band vor durch Berichte, Analysen, Interpretationen und Textwiedergaben. Aber nicht nur Sammler und Feldforscher kommen zur Sparche: Volkskundler, Philologen, Erzähler, Sprecherzieher, Therapeuten, Lehrer, Psychologen und Mundartforscher schildern die Ergebnisse ihres Umgangs mit Märchen für Laien und Wissenschaftler. Die Beiträge verstehen sich jedoch nicht nur als »Märchenarchäologie« einer in ihrem ursprünglichen Sein weitgehend verklungenen Gattung, sondern berücksichtigen auch das »zweite Dasein« des Märchens, seine überraschend vielfältigen Anwendungen in der Jetztzeit: ein Stück aktueller Gegenwartsvolkskunde.
Weshalb geschieht die »Wiederbelebung« gerade in unseren Jahrzehnten? Vielleicht ist die zu Unrecht totgesagte Gattung im heutigen veränderten Wirkungsrahmen auch Indikator einer gesellschaftlichen Wende: unsere Kultur vom Fließband mit Verflachung, Überreizung, Anonymität, Vereinsamung drängt wieder zur einfacheren, aber vielschichtigeren und schöpferischen Lebensform. Damit gewinnt das Märchen eine neue, richtiger: seine alte soziale Funktion zurück. Und noch ein überraschendes Phäomen wird erkennbar. Die ursprünglich an Ältere gerichtete Erzählung, später in die Kinderüberlieferung abgesunken, erscheint heute wieder in ihrer originalen Form, als Unterhaltung von Erwachsenen für Erwachsene.
Die frühe Erzählforschung beschäftigte sich bevorzugt allein mit den Texten, für die heutige steht die Situation des Erzählvorgangs, der Kontext, im Brennpunkt des Interesses. Beide Richtungen vernachlässigen jedoch etwas, ohne das weder Text noch Kontext überhaupt existieren würden: den Menschen. Versteht sich die Erzählforschung als Volks-Kunde, als Anthropologie im eigentlichen Sinn, so müssen alle ihre Aussagen doch schließlich auf den Menschen zurückweisen, zu Erkenntnissen über sein Wesen führen. Spezieller: Narrativistik hat sich auch und besonders der Untersuchung von Erzählern und Erzählgemeinschaften sowie ihren gegenseitigen Abhängigkeiten zu widmen. Es ist zu fragen, welche Prägungen, Charaktereigenschaften und Lebensgewohnheiten ein Individuum zum Erzähler werden lassen, woher er seine Stoffe nimmt, wie ausgewählt, schöpferisch umformt und weiterleitet? Er gibt, die Erzählgemeinschaft erhält etwas von ihm, fordert, stimuliert, beeinflusst ihn. Wer sind diese Rezipienten, warum hören sie zu, was empfinden sie? Einige Antworten auf diese Fragen will der Band vermitteln - teils durch neue Forschungen, teils durch Überblicke zu vorliegenden Wissenschaftsergebnissen.