Wer die wildsteilen, mit hohen, bald festen, bald furchtbar zerklüfteten Felswänden besetzten Bergabhänge der Vispertäler kennt, wird sich nicht wundern, dass da mancher, der diese gefährlichen Gegenden in Holz oder Weide ausbeuten will, eines gewaltsamen Todes sterben müsse. Der geringste Zufall oder die unbedeutendste Unvorsichtigkeit, oft nur ein halber Fehltritt auf so unsicherem Boden führt unausweichlich zum sichern Tode in schauerlichen Abgründen. — Schutzengel mögen es sein, welche so viele unbesonnene Hirtenknaben täglich aus unzähligen Gefahren retten und abends mit der Viehherde wieder wohl erhalten in die Heimat zurückführen.
Noch vor wenig Jahren (1858) wurde ein Hirtenknabe von einer störrischen Ziege, die er über einen schmalen Pfad führen wollte, in den Abgrund gestossen. Der arme Junge starb nicht, blieb aber mit zerbrochenen Beinen, eingedrückten Rippen und so furchtbar zerschlagener Kinnlade, dass Zähne herausfielen und die genommene Nahrung am Halse wieder hervortrat, am Fusse einer abgelegenen Felswand, bei untergehender Sonne, fern von jeder menschlichen Hilfe in voller Geistesgegenwart hoffnungslos liegen. Man kann sich die Lage des Unglücklichen denken, der erst spät am folgenden Tage aufgefunden, nach Hause getragen und nach etwa drei Wochen seinen Schmerzen erlag.
Aus dem vorigen Jahrhundert wird erzählt, ein Jüngling, Peter Joseph Imboden sei auf der Geisstrifftallmei in Herbriggen totgefallen. Sein unglücklicher Vater fand wegen der dringenden Heuernte, nicht Leute, um seinen verunglückten Sohn aufsuchen und heimtragen zu helfen. Ein gewisser Franz Gruber hatte die Gefälligkeit, sich für diesen traurigen Dienst erbitten zu lassen. Er liess seine Arbeit liegen, ging und half dem trostlosen Vater, den lieben Totgefallenen aufheben und heimtragen.
Bald darauf ging der barmherzige Samaritan, der ein gewandter Jäger war, auf die Jagd. Noch vor Tagesanbruch im Hochgebirge anlangend, setzte er sich nieder und schlief ein. Im Traume kam der Verstorbene, den er vor ein paar Tagen, grossmütig mit dem Vater heimgetragen, zu ihm heran, weckte ihn sanft und sagte lächelnd: «Steh' auf, es ist Zeit; geh auf die Warte, ein schönes Gradtier wartet deiner.» Sogleich begab sich der Jäger auf den bezeichneten Ausstich (in der Jägersprache eine Stelle, von der aus auf Gemsen geschossen werden kann) und traf einen schönen Gemsbock mitten in die Brust, den er hochvergnügt schon um zehn Uhr des Morgens heimbrachte.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch