In den Viehställen gibt es mancherlei Vorfälle, die der leichtgläubige Landmann übernatürlichen Ursachen zuschreibt und als ein besonderes Zeichen oder als eine Mahnung annimmt; wenn z. B. sich eine Kuh unter den Augen des Kühers oder der Küherin auf einmal von der Krippe losmacht, und ihr die Kette entweder am Halse bleibt oder offen und wohl auch gut geschlossen auf den Boden fällt; oder wenn ein Stück Vieh mit aufgeschlagener Kette so hart an's Krippenholz gebunden wird, dass volle Mannskraft erfordert wird, um selbes wieder loszubinden, usf. Am Auffallendsten ist's aber, wenn zwei Kühe, oder auch Ziegen, in einer und derselben Kette gefunden werden. Natürliche Zufälle können das kaum zuwege bringen, weil es die Kraft eines Mannes übersteigt, die Hälse zweier Kühe in den gemessenen Umfang einer Halskette so aneinander zu schnüren, dass das geängstigte Vieh mit den Füssen stampft und mit offenem Munde brüllt.
Dass solche, natürlicherweise unerklärbare Zufälle in den Viehställen hie und da wirklich vorkommen, beweisen der allgemeine Glaube und viele Sagen unter der viehhaltenden Bevölkerung. Es gibt wohl kaum eine Gemeinde, wo von solchen Vorfällen und Erlebnissen niemand was zu erzählen wüsste. Ich selbst könnte glaubwürdige, gutbekannte Personen nennen und die Viehställe näher bezeichnen, die solchem Spuke unterlagen.
Bemerkenswert ist dabei, dass die allgemeine Volksmeinung solche Zufälle in Viehställen selten boshaften Menschen oder bösen Geistern zuschreibt, sondern allüberall dafür hält, es seien leidende Abgestorbene, die durch solche Zeichen, zur Erleichterung ihrer Qualen, von den Lebenden Gebete und gute Werke verlangen.
Und dieser überall lebende Volksglaube ist eben nicht neu.
Aus dem vorigen Jahrhunderte wird in St. Niklaus erzählt, in Stellimatten, im Jungtal, habe einer jungen Küherin drei Nächte nacheinander geträumt, zwei Schwestern "Zerdile" bedürfen noch des Gebetes, um erlöst zu werden; sie solle ihren Vater, als Besitzer ihrer einstigen Güter, bitten, für sie noch Gebete verrichten zu lassen. Jeden Morgen nach solchem Traume fand das Mädchen im Stalle zwei Kühe an einer und derselben Kette. Am dritten Tage hielt es die Erschrockene nicht mehr aus und lief zum Vater nach St. Niklaus herab, der erstaunt wahrnahm, eben den gleichen Traum gehabt zu haben. Er liess darum die verlangten Gebete verrichten, obschon weder er noch seine Tochter sich erinnern konnten, von den Schwestern Zerdile je etwas gehört zu haben.
Erst später erfuhr er aus alten Schriften, dass es wirkliche eine Familie "Zerdile" in St. Niklaus gegeben habe, die mit zwei Schwestern längstens ausgestorben sei.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch