Auf der königlichen Heerstrasse, die zum Passe des Simplonberges führt, sieht der Wanderer in Paino, unweit der Wallisergrenze, in geringer Entfernung ob der Strasse eine eingefallene Kirche, welche einst die Pfarrkirche der Umgegend war sowohl für die Italiener als für die deutschen Walliser. Beide Teile hatten zwar eigene Priester, aber nur eine gemeinsame Pfarrkirche. Der Pfarrer der Italiener wohnte in Trasquiera, der Pfarrer der Walliser aber in Ruden, dem heutigen Gondo. Diese Pfarrer hatten, um Missverständnissen vorzubeugen, das ausschliessliche Recht und die Verpflichtung, jeder eine Woche lang abwechselnd in der gemeinsamen Pfarrkirche die Pfarrrechte auszuüben, die Sakramente zu spenden und den Gottesdienst zu besorgen.
Da geschah es, dass an einem Sonntage der italienische Pfarrer, an dem die Reihe war, zum vormittägigen Gottesdienste nicht eintraf. Voll Ungeduld wartete das Volk bis Mittag und, als der Pfarrer noch immer nicht ankommen wollte, gingen Männer nach Gondo hin, um den deutschen Pfarrer zum Gottesdienste herbei zu rufen. Ungern und nur gezwungen folgte dieser, weil er den heftigen und stürmenden Charakter seines Mitbruders kannte. Er zog in die Kirche, kleidete sich an und stieg zum Altare, um das Hl. Opfer zu entrichten. — Da erscheint der italienische Pfarrer, der sich auf dem Herwege auf die Jagd begeben und so verspätet hatte, an der Kirchporte und sieht mit Ärger den Gottesdienst angefangen. Voll Zorn nimmt er sein Jagdgewehr ab der Achsel, schlägt an und schiesst seinen Nebenbuhler am Altare tot nieder. — Man kann sich den Schrecken und die Bestürzung des Volkes denken!
In Folge dieses Meuchelmordes wurde die Pfarrei getrennt; die Deutschen blieben in Ruden, die Italiener in Trasquiera und die gemeinsame Pfarrkirche kam in Verfall, wie sie noch zu sehen ist. — Der römische Stuhl verleibte die deutsche Pfarrei der Diözese Sitten ein.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch