In den verschlossenen unterirdischen Gewölben von Gerunda sitzt neben ungeheuren Schätzen eine wunderschöne Jungfrau. Sie wurde vor Zeiten von ihrem Vater verwünscht, diese Schätze zu bewachen. Nur alle Jahrzehnt, am Ostermorgen, kommt sie herauf zu einer Quelle, die nur dann fliesst, und wäscht und kämmt sich an derselben. Dann allein kann sie erlöst werden. Bietet sich hiezu jemand an, so verwandelt sie sich in drei grause Ungetüme; erst in eine Kröte, dann in eine Schlange, zuletzt in einen Löwen. Wer diese Ungetüme in den Schlund küssen darf, erlöst das Fräulein. — Noch aber harrt sie der Erlösung; denn niemand wagte bisher solche Küsse.
Ein Vater mit seinen zwei Söhnen traf einst die Jungfrau am Brünnlein. Die drei Männer versprachen, sie zu erlösen. Das Fräulein erklärte denselben die Bedingungen, versprach ihnen reiche Schätze im Falle der Erlösung, aber auch schrecklichen Fluch, wenn sie zurückweichen sollten. — Die drei versprachen Stand zu halten, komme da was wolle — und die Jungfrau begann ihre Verwandlungen.
Zuerst hüpfte sie als Kröte heran; die war aber so garstig, dass den Männern alsbald der Mut entfiel. Noch mehr grauste ihnen vor der Schlange, welche sie schon von weitem mit ihrem langen stachlichen Schnauzbarte stach. Als aber der Löwe mit weitgeöffnetem blutrotem Rachen in mächtigen Sätzen daher sprang, da wandten sich alle Drei und liefen so schnell sie konnten. '
Das Fräulein aber schleuderte ihnen schrecklichen Fluch nach; — und dieser lastet noch auf ihrer Nachkommenschaft bis ins neunte Glied.
(erzählt von Raphael Ritz)
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch