Im Beinhause neben der Pfarrkirche in Naters findet man ein sonderbares Schnitzwerk, das eine Person in Lebensgrösse an ein Kreuz genagelt vorstellt. Die Statue hat in Holz geschnitzelte Frauenkleider, die mit drei oder vier verschiedenfarbigen alten Röcken aus Tuch bedeckt sind; am Kopfe fallen grosse schwarze Augenbraunen und ein kräftiger Schnurr- und Kinnbart auf. Das Gesicht ist mit lebendigen Farben bemalt und so stark lackiert, dass es den Anschein hat, die Haut sei nass von Schweiss und die grossen, schwarzen Augen feucht von Tränen. Es ist das die "St. Kümmernis", von der in den oberen Bezirken des deutschen Wallis oft erzählt wird und die von den jungen Töchtern, wenn möglich noch vor dem Heiraten, der Neugierde halber will gesehen sein; gleich wie reiche Engländer weder zufrieden leben noch ruhig sterben könnten, ohne den Montblanc oder das Matterhorn wenigstens einmal mitangeschaut zu haben.
Eine Legende erzählt, die Hl. Kümmernis sei eine schöne Königstochter gewesen, die ihr königlicher Vater an einen Menschen verloben wollte, der ihr missfiel. Sie hatte überhaupt keine Neigung zum Ehestand und wollte ihr Leben Gott widmen. Weil sie aber auf die eigene Kraft, allen Versuchungen zu widerstehen, zu wenig Vertrauen hatte, nahm sie ihre Zuflucht zum Himmel. Und sie wurde erhört; ihr Mund, Nase und Augen wurden gross und entformten sich entsetzlich; kohlschwarze Augenbraunen und ein gewaltiger Stutzbart vollendeten die Entstellung ihres einst so schönen Antlitzes. Als der Vater das Spiel merkte, liess er im Zorn seine Tochter an ein Kreuz nageln. — Wer mag sich da wundern, dass die zahlreichen Besucherinnen dieses Wunderbildes nicht alle den Mut haben, für das Gleiche zu beten und das Gleiche zu dulden?
Man erzählt ferner, die St. Kümmernis habe einst von Naters davonlaufen wollen. Zum Glück begegnete sie auf ihrer Flucht zuoberst im Dorfe einem Manne, dem sie noch länger zu bleiben versprach, wenn ihr alle sieben Jahre ein neues Kleid gegeben würde. — Ein abermaliges Fortlaufen fürchtet der Schreiber dieser Sage eben nicht, obschon ihr jetziger Anzug weit über sieben Jahre alt zu sein scheint; doch droht der St. Kümmernis vom gegenwärtigen Zeitgeiste Gefahr, der kaum noch etwas Sonderbares zu vertragen im Stande ist und alles nur verflacht und fern geglättet will erscheinen lasten.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch