Im Egelsee auf dem Tegerfeld hauste voreinst ein greulicher Lindwurm. Der kam zuzeiten aus dem Wasser herauf und was er fand, es wäre Mensch oder Tier, das fraß er alles. Und wenn er hungerte und nichts mehr auf dem Feld fand, da ging er zur Burg, da musste man ihm zu fressen geben. Wenn er dann genug hatte, so zog er sich wieder in den See zurück, bis ihn abermals hungerte. Auf der Burg aber saß ein König. Alle Wege über Land waren sehr begangen, und so konnte man die Gegend nicht veröden lassen. Da nun niemand sich getraute, mit dem Untier zu kämpfen, so kam das Volk um seiner Sicherheit willen überein, dass man dem Wurm alle Tage zwei Schafe geben sollte. Die brachte man ihm an den See. Und dieweil sie das taten, kam der Drache nicht mehr nach der Burg und ließ die Menschen in Frieden. Mit der Zeit aber hatte der Drache soviel Vieh gefressen, dass schier keines mehr im Lande war, und da begann er wieder unter den Menschen zu wüten. Da wurden die Bürger rätig, man solle das Los werfen, und wen es träfe, arm oder reich, Mann oder Weib, den solle man dem Drachen geben desselbigen Tages und dazu ein Schaf.
Da fiel das Los einmal auch auf des Königs Tochter, sein einziges Kind. Und der König weinte und jammerte und bat die Leute, sie möchten sich seiner erbarmen und ihn seine Tochter behalten lassen, er wolle ihnen Silbers und Goldes geben, so viel sie nur begehrten. Da aber ergrimmte das Volk und sie sprachen: «Auch wir haben unsere Nächsten verloren, drum musst du deiner Tochter auch entsagen. Also gib sie heraus, oder du musst mit ihr sterben.» Das war dem König bitter leid und er sprach: «O weh, du armes Kind, wozu bist du geboren worden, dass dein Leib so jung verderben muss.» Und er ließ sie ihre königlichen Kleider anlegen und sich bereit machen. Da sprach die Jungfrau: «Was anderen widerfahren ist, das ist nur recht und billig, dass es auch mir geschehe!» Und sie ging allein mit dem Schaf an den See und saß am Rain und wartete, bis der Wurm käme, und weinte bitterlich.
Da aber kam zum guten Glück ein schöner, junger Rittersmann des Weges geritten, Jörg mit Namen geheißen. Weiß war sein Ross und silbern die Rüstung, und golden flogen ihm die Locken im Winde. Wie der die Jungfrau auf dem Bühl sitzen und weinen sah, da sprang er vom Pferde und trat zu ihr hin. Und wie er ihre Schönheit gewahrte und die reiche Zier ihrer Kleider, da ward ihm leid um sie, und er fragte, warum sie so betrübt wäre. Da antwortete sie und sprach: «Herr sitzet auf euer Ross und entreitet alsbald von diesem Ort, sonst werdet ihr mit mir sterben.» Da sprach der Ritter Jörg: «Edle Jungfrau, sagt mir erst, was euch sei.» Da erzählte sie ihm, dass sie hierher gekommen sei dem Drachen zum Fraß. Da sprach Jörg: «Seid getrost schöne Jungfrau, und fürchtet euch nicht. Ich will euch helfen im Namen Gottes.» Kaum hatte er das Wort gesagt, da wand sich der Wurm aus dem Wasser und fuhr zu. Die Jungfrau erschrak, dass sie verblich wie eine Lilie. Wie aber Ritter Jörg den Drachen ersah, schwang er sich auf sein Ross, machte das Zeichen des Kreuzes vor sich und sprengte mit eingelegter Lanze dem Wurm entgegen. Der spie Gift und Geifer aus seinem Rachen und schnappte nach dem Speer. Jörg stach ihm den Speer durch den Schlund. Da fiel der Wurm nieder und verendete. Dann hob der Ritter Jörg die Jungfrau vor sich aufs Ross und brachte sie heim in ihres Vaters Schloss. Und der König gab seine Tochter dem kühnen Ritter, der sie und das ganze Land erlöst, zur Frau und das Reich zu Erb und eigen.
Quelle: Schweizer Märchen, Sagen und Fenggengeschichten, hrg. von Curt Englert-Faye, Zbinden Verlag
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.