Man erzählt, dass der Kirchturm von Naters sehr alt, schon von den Heiden erbaut und erst Jahrhunderte später für den katholischen Gottesdienst eingerichtet worden sei. Die zwei grossen Glocken in diesem Turme seien auch von den ältesten im Wallis. Die grosse Glocke wiegt fünfzig Zentner und erhielt in der Taufe die Namen Morizius, Antonia; Moriz, weil derselbe der Landes- und Kirchenpatron ist; Antonia — weil die Gotte derselben oder Taufpatin — eine Gräfin Blandra von Weingarten in Naters war. Diese Gräfin, als sie beim Glockenguss dieser grossen Glocke gegenwärtig war und den Meister verzagen und jammern hörte, dass der Guss fehlen müsse, weil zu wenig geschworenes Metall vorhanden sei, eilte mit einem Vorschoss voll Silbergeschirr herbei und warf das in den Schmelztiegel. Jetzt war der Guss geraten und weil viel Silber hineinkam, erhielt sie auch einen so majestätischen Ton, wie selten eine Glocke im Wallis. So weit man den Ton dieser Glocke hört, soll sie einen heilsamen Einfluss auf die Ungewitter ausüben und die Kräfte der schädlichen Geister hemmen. So wollten einst bei einem grossen Ungewitter zwei Berggeister das Fuchs-Gufer ob Naters auf das Dorf herunterstossen. Ein Geist rief dem andern zu: «Stoss, stoss!» Der andere aber erwiderte: «Ich mag nimme, hä kei Chraft meh, denn die Gross Dona lütot.» Was so viel sagen wollte: «Ich höre den Ton der grossen Glocke Antonia und habe keine Gewalt mehr zu schaden.» — Die zweite grosse Glocke soll gegen fünfhundert Jahre alt sein und heisst deswegen auch "d'Alta", — hat griechische und hebräische Aufschriften, sagt man, und soll bei zwanzig Zentner wiegen.
Man erzählt auch, die Kirche stehe auf Erlen, was wohl so viel sagen will, als auf Pfeilern von Erlenholz, weil der Boden unter ihr so sumpfig sei, dass man kein rechtes Fundament habe graben können. Diese, eine der ältesten Pfarrkirchen von Wallis, hat in dem vorletzten grossen Erdbeben stark gelitten. Dies Erdbeben fand im neunten Christmonat 1755 nach Mittag um halb drei Uhr statt, in Naters stürzte der dritte Teil des Kirchengewölbes ein und zerschmetterte das Portal und die Orgel samt den Stühlen. Über zweihundert Pfarrer haben hier die Seelsorge vertreten.
Merkwürdig ist auch das düstere, grosse Beinhaus, in welchem eine zahllose Menge von Totenköpfen aufgeschichtet steht, die den Vorübergehenden predigen: «Memento homo, quia pulvis! Gedenke o Mensch, dass du Staub bist und in Staub zurückkehren wirst!» In diesem Beinhaus ist auch ein schauerliches Bild von der Sant Kümmernis oder Wilgefortis, einer ans Kreuz geschlagenen Weibsperson, welche das Volk häufig als Fürbitterin bei Gott anruft und durch sie oft soll Erhörung gefunden haben. — Einst soll einem der Hl. Theodul und die Sant Kümmernis reisefertig begegnet sein. Als dieser sie fragte, wo sie hinziehen wollen, haben sie geantwortet, sie wollen Naters verlassen, weil man die Theodulspende auf Blatten nicht mehr geben wolle. Man hatte diese Spende auf ewige Zeiten versprochen wegen dem gräulichen Wieggisch, welches aus dem Bruchigraben entstanden, Naters überschwemmte und mit Untergang bedrohte.
Merkwürdige alte Wohnungen: Das Haus vom "Kastlan Gasser" genannt, soll auch ein ehemaliges Heiden-, später ein Richterhaus gewesen sein. Von den Kellern desselben sei ein unterirdischer Gang bis in das Schloss Urnäfass gegangen.
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch