Im Aletschtale, nahe bei dem Gletscher, soll einst ein vor Alter schwarzes Holzhäuschen gestanden haben, das eine fromme alte Witwe bewohnte. Sie betete viel für die armen Seelen im Aletschgletscher. Wenn sie in den langen Winternächten bei einem Nachtlämpchen am Rocken sass und emsig spann, so betete sie fast beständig für die Verstorbenen; liess die Hauspforte ungeschlossen, damit die armen Seelen in ihre alte eingeheizte Stube hineinkommen und sich erwärmen könnten. Doch zu diesem Eintritt bedurften sie ihrer Erlaubnis, welche sie ihnen erst erteilte, wenn sie zu Bette ging. Da öffnete sie ein Fenster und rief leise hinaus: «Jetzt — aber mir unschädlich!» liess noch ein Stümpchen Licht brennen und ging zu Bette. Bald öffnete sich leise die Haus-, dann die Stubentür wie von einem kühlen Windzuge. Unzählige, kaum hörbare Tritte trippelten und trappelten herein, als wenn viel Volk sich in die Stube und um den warmen Ofen drängte. Gegen Betenläuten hörte sie das gleiche Geräusch wieder zur Tür hinaus.
Einst ereignete es sich, dass diese Witwe länger aufblieb als gewöhnlich und eifrig spann; dabei war es draussen sehr kalt. Auf einmal rief es deutlich vor dem Fenster: «Schoch, (das will sagen, es macht kalt oder uns friert's), d'Altschmidja, (so hiess das Weib), spinnt noch.» «Ich weiss wohl», erwiderte sie, «ich will nur dies Löckchen Werg abspinnen.» Aber es dauerte nicht lange, da rief es noch stärker: «Schoch, d'Altschmidja spinnt noch!» — Da wurde sie ungeduldig: «Wenn ihr's nicht erleiden könnt bis ich fertig bin, so kommt herein.» Sie vergass aber beizusetzen: «ohne mich zu belästigen» — Da ging die Haus- und Stubentüre wie von einem starken Windstoss auf, und die Tritte der unsichtbaren Abendsitzer wurden so zahlreich und das Herumrauschen dauerte so lange, als wollte es kein Ende nehmen. Aber auch ihr wurde so angstvoll, dass sie vor Hitze zu ersticken vermeinte, und konnte sich nicht vom Rocken entfernen, — so gedrängt voll war die Stube von armen Seelen. Sie sah es als eine Strafe an, weil sie die Verstorbenen so lange in der Kälte warten liess. Künftig wurde sie barmherziger und vorsichtiger. — Als die mitleidige alte Schmidja eben in den letzten Zügen war — und die Krankenwärter zueinander sagten: «Was werden die armen Seelen jetzt rufen, wenn ihre Freundin tot ist?» Da ertönte es in der nächtlichen Stille vor den Fenstern laut: «Schoch, d'Altschmidja lebt noch!» Die Sterbende machte noch Zeichen, dass sie sich freue über diese Stimme und gab dann ihren Geist auf. Im gleichen Augenblicke sahen die Wächter vor den Fenstern eine starke Helle, und wie sie hinausschauten, sahen sie eine grosse Prozession brennender Lichter, die von ihrem Haus bis zum Gletscher sich fortbewegten, und wie sie auf selbem angekommen, eines nach dem andern erloschen. «Das sind die armen Seelen», sagten die Wächter zueinander, «mit den Nachtlichtem, die sie für selbe brennen liess; sie begleiten ihre Freundin! — Ja! d'Altschmidja lebt noch!»
Quelle: M. Tscheinen, P. J. Ruppen, Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Sagenfreunden, Sitten 1872.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch