Sie ruht längst im Schatten des Matter Kirchturms, jene geheimnisvolle Frau mit den seltsamen Augen, mit denen sie schon als junges Mädchen mehr gesehen hatte, als für einen Sterblichen gut war. Sie war eben in der Mitternacht von Fronfasten geboren und darum ein Fronfastenkind. Mit der Geisterwelt stand deshalb das Geisser Babeli auf vertrautem Fuss, und so musste es denn auch nachtwandeln. Denn nachts gehört die Welt den Geistern. Von Zeit zu Zeit, aber immer nach dem Betzeitläuten, befiel eine eigenartige Unruhe das sonst stille und eher menschenscheue Geschöpf. Es lief aufgeregt in der Kammer umher, dann ging’s treppauf und treppab, als müsste es auf der Russdiele oder im Keller etwas suchen. Dabei machte es merkwürdige Faxen, bis es schliesslich aufs «Brüggli» hinausschoss und zur Strasse hinabhastete. Da stand das Babeli dann eine gute Viertelstunde oder noch länger, schaute ernsthaft zum Lebhag hinüber und nickte gelegentlich. Es war, als ob es Bekannte grüssen wollte, sich aber nicht recht getraute. Nach einer Weile wendete es sich gegen Matt zu, tat auch wohl einen Schritt in die Strasse und legte die Hand an die Stirn, um besser und weiter sehen zu können. Endlich überkam ein Zittern den schmächtigen Körper – ein Seufzer entstieg der rätselvollen Seele. Mit kummervollem Gesicht tastete sich das Babeli auf den Laubsack zurück. Es hatte den nächsten Leichenzug im Dorfe gesehen.
Einmal gingen der Pfarrer und der Lehrer von Matt in später Winternacht noch von Engi heim. Wie sie bei des Geissers Haus vorbeikamen, stand das Babeli im roten Unterrock und barfuss am Wegrand, mitten in einem Schneehaufen. Die beiden grüssten und wollten es heimweisen, da hielt es die Hände vors Gesicht, schluchzte erschüttert auf und eilte ins Haus.
Acht Tage später schaufelte der Sigrist von Matt des Lehrers Grab. Das Babeli stand wieder an der Strasse, als der Leichenzug vorüberschritt. Es nickte dann und wann in seiner linkischen Art. Jaja, so hatte es alles gesehen: den weissen Sarg, die Verwandten, die Nachbarn und die Schulkinder.
Noch in den besten Jahren trug man das Babeli auf den Friedhof. Niemand verwunderte sich über seinen frühen Tod, denn Fronfastenkinder werden selten alt. Es ist, wie wenn sie von der Geisterwelt mächtiger an- und hinübergezogen würden.
Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch