Vor ungefähr siebenhundert Jahren, als das Dunkel der Tannen noch weiter um den Hügel her Schatten verbreitete als heutzutage, stand unten an jener Seite desselben, von Wald umfangen, eine kleine Hütte, bewohnt von einer alten Mutter und deren Tochter. Die letztere war vom Himmel mit ganz besondern Gaben der Schönheit geschmückt worden. Schlank war ihr Wuchs, aus ihrem vollen Antlitze schauten ein Paar liebliche Augen, und lustig umwallten im Winde ihre blonden Locken Brust und Schultern, dass nur hie und da die blühenden Wangen durchblicken konnten. Kurz, ein wahres Muster von Schönheit war diese Tochter des Waldes. Was Wunder aber, dass ihre Reize, als kaum das Mädchen zur Jungfrau herangeblüht war, von nah und fern und aus allen Ständen Freier herbeizogen, die meistens, vorgeblich um auf dem noch seltner betretenen Wege über den mit Dickicht bedeckten Hügel nicht zu verirren, sich die Hand der Schönen als Führerin auserbaten. Unter ihnen schmachtete in den Banden der Minne vorzüglich ein edler Jüngling aus einem adelichen Geschlechte der Stadt. Bestieg er früh morgens sein Jagdroß, eilte er im Vorbeireiten nach der Waldhütte zu, um vor Beginn des Tagewerks der Geliebten seinen Morgengruß zu bringen; und wenn die Sonne gesunken und er von dem Waidwerk zurückkehrte, verlebte er, die Frucht des Tages ihr darbringend, meistens noch unter dem Flügel der Nacht einige wonnevolle Stunden in ihren Armen; denn wenn manchem frechen Bewerber ihre Antwort ungelegen kam, so schlug unter ihrem Mieder ein Herz, das heftig für diesen Jüngling brannte. - Doch der Liebenden Wünschen kam zum Theil wenigstens elterliche Billigung nicht entgegen. Denn kaum hatte des Jünglings ahnenstolzer Vater von seines Sohnes Bekanntschaft mit einer niedrigen Dirne, wie er sie nannte, Nachricht erhalten, entbrannte sein Herz von wilder Galle. Er forderte jenen vor sich und erklärte ihm aufs bestimmteste, lasse er von der Vettel nicht, so wolle er fürderhin sein Antlitz nimmer schauen; von ihm enterbt, möge er suchen die weite Welt. Wie ein Donnerschlag traf dieses Wort des Jünglings Brust. Bei der ins Jenseits vorangegangenen, milden Mutter ihn beschwörend, warf er sich zu den Füßen des Strengen; - aber umsonst war all sein Flehen. Da gab ihm die Verzweiflung ein, sich los zu reißen von der Heimath und der Geliebten, um im Kampfe gegen die wilden Saracenen seinem Herzen Ruhe zu verschaffen; vielleicht auch um einst nach abgelegten Proben der Tapferkeit für eine heilige Sache mit sicherer Bitte vor seinem Vater erscheinen zu können. Schweren Herzens schlich er, vielleicht zum Leztenmale, der bekannten Hütte zu, brachte der Jungfrau seiner Wahl die traurige Post, drückte vielleicht den letzten Kuss auf ihre Lippen und sprengte fort ins Schlachtgetümmel. Seine Ahnung betrog ihn nicht; ein unbekanntes Land deckt seine Gebeine. Aber auch in der Jungfrau Brust fieng ein giftiger Wurm zu nagen an; denn dass sie jenen auf dieser Erde mehr sehen würde, glaubte sie nicht. Der Wangen Roth verblich, es trübten sich die klaren Augen, es schwand das volle Gesicht, wie ein Schatten an der Wand schlich sie umher und - schon der junge Lenz streute Blumen auf ihr frühes Grab. Da, von Verzweiflung ergriffen, sann ihre alte Mutter auf Rache an dem Urheber ihres Unglücks, den bereits betagten Adelichen. Mancher grauende Morgen traf sie, Unheil aussinnend, auf ihrem Lager an; aber immer wollte es ihr nicht glücken, ein natürliches Mittel zu seinem Untergange ausfindig zu machen. Da fiel es ihr endlich ein, zu dem Bösen ihre Zuflucht zu nehmen. Sie wusste, dass man einen Menschen durch ein kleines, aus Wachs geformtes Bildnis von ihm, welches man in des Satans Namen so taufe, wie er selbst heiße und hierauf unter gewissen zauberischen Zeichen und Worten an ein Haselfeuer halte, bis es langsam zerschmelze, auf eine niemandem auffallende Weise aus der Welt schaffen könne. Dies gedachte sie nun an ihrem Todfeinde auszuüben und erwählte zu dem Orte der Ausführung jenen beschriebenen Stein, teils, weil er schon damals wegen der Hexentänze, die um ihn nach der Sage des Volkes gehalten wurden, ihr als bisweiliger Thron des Beelzebubs um so geeigneter dazu schien, teils auch darum, weil von dem Felsen aus, was notwendig war, das Haus des Adelichen erblickt werden konnte. Schnell war das Bild zu Stande gebracht, fünf gabelförmige Haselruten gesucht, und - schon in der nächsten Nacht bestieg sie mit rachekochendem Herzen und fliegenden Haaren den grausen Stein. Totenstill lag um sie her Flur und Wald, kein lebendiges Wesen regte sich, und nur die Sternlein schauten als Zeugen ihrer Tat ernst auf sie herab. Und sie schritt zum Werk. Schauerlich tönte das Fluchgebet über alles, was göttlich heißt, und die Verpfändungsformel an den Schwarzen durch die Tannen, die wie durch einen gottgesandten Wind erbebten. Dann taufte sie unter dreimaligem Anrufen des Satanas das Bild und hielt es unter den gräulichsten Verwünschungen und geheimnisvollen Worten und Zeichen an das Feuer. Das Mittel blieb nicht wirkungslos; denn während jene ihr verruchtes Werk betrieb, spürte der Unglückliche an allen Teilen des Körpers ein verzehrendes Brennen, das von keinem Arzneimittel beschwichtigt werden konnte. Indessen schritt die Alte in ihrem Vorhaben immer weiter. Schon zehn Nächte hindurch hatte sie den verhängnisvollen Felsen bestiegen; die elfte sollte die letzte sein. Schrecklicher als je wütete in dem Körper ihres abgezehrten Feindes das Feuer, und mit erneuerter Kraft verdoppelten sich seine Schmerzen, bis er, seinem geschmolzenen Bilde folgend, unter den fürchterlichsten Kämpfen den Geist aufgab. Doch auch der Alten hatte die Stunde geschlagen; denn da die Bewohner der Umgegend auf die wiederholten Feuer in der Mitternachtsstunde endlich aufmerksam wurden, und überdies sich das Gerücht verbreitet hatte, dass bei der Krankheit jenes in der Stadt angesehenen Mannes übernatürliche Kräfte mit im Spiele gewesen sein möchten, so wurde das Weib wenigstens als Mitwissende an dem Frevel eingezogen und, da sie vom Gewissen gefoltert, das Verbrechen bekannte, als Hexe verbrannt. Um aber jeden Überrest ihres Eigentums zu vernichten, ward auch die Waldhütte niedergerissen und an ihre Stelle das jetzt noch stehende Schaffot erbaut. Als einziger Zeuge der Tat steht also noch, wie damals, der denkwürdige Felsen da, auf dem manche, die zur Nachtzeit jenen Weg gingen, noch jetzt in der mitternächtlichen Stunde ein luftiges Schattengebilde in knieender Stellung gesehen zu haben behaupten.
(Schaffhausen)
Aus: R. Frauenfelder, Sagen und Legenden aus dem Kanton Schaffhausen, Schaffhausen 1933.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch