Oben bei der Teufelsbrücke in Uri hört der Name Reusstal auf, die Fortsetzung heisst nun Göschenertal. Unter den Gletschern und Firnen der Göscheneralp strömen eigentlich die wahren Reussquellen hervor. Anderthalb Stunden vom Dörfchen, wo in alten Zeiten der Reichszoll erhoben wurde, taleinwärts gegen den Dammafirn hin, steht Samiklausen, eine dem heiligen Bischof Nikolaus von Mira einst vom Bischof von Konstanz an den äussersten Grenzen seiner Diözese geweihte Kapelle. Alles Volk im Göschenertal und auf Göscheneralpe sagt dir, und in Urseren hörst du 's bestätigen: Samiklausen ist die älteste Kirche im Kanton Uri. Jetzt ist sie im Zerfall. Hier, wo zuerst in der Gegend das Christentum wurzelte, sollen mit einem Priester Waldbrüder gehaust haben. Nun, zu Sankt Niklausen liegt, wie das Volk behauptet, ein heiliger Leib begraben. Es soll noch nicht viel über hundert Jahre sein, dass eines Morgens früh ein braver Hirtenknabe das Gotteshaus betrat. Ein Priester kam und forderte ihn zum Messdienen auf. Der Knabe tat es mit Freuden. Nach der Messe lud ihn der Geistliche ein, alle Morgen sich zum Messdienen einzufinden, verbot ihm jedoch aufs strengste jemanden etwas davon zu sagen, worauf er verschwand. Der Hirtenknabe hielt Wort und war auch sehr verschwiegen. So bediente er längere Zeit den Priestergeist bei dem heiligen Opfer. Endlich fiel es der Mutter auf, dass ihr Sohn immer zur bestimmten Zeit sich fortbegab und im Zögerungsfalle sehr pressierlich tat. Sie ahnte ein Geheimnis und drang in ihn, aber lange umsonst. Mutterzärtlichkeit löste indessen doch die Zunge. Nun hiess sie den Knaben selber wieder hingehen und messdienen, allein wie er in die Kapelle kam, war alles schon vorüber, der Priester war verschwunden, die Lichter waren ausgelöscht.
Er versuchte es wieder und ging des andern Tages früher hin und noch früher, allein immer wenn er kam, war die Messe vorbei, er sah allemal nur noch die rauchenden Kerzen als Beweis des Geschehenen. Hirtenknabe, nachdem er geplaudert, war nicht mehr fähig dem Geiste zur Messe zu dienen.
Quelle: Alois Lütolf, Sagen, Bräuche, Legenden aus den fünf Orten Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug, Luzern 1865. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch.