Hoch auf einem Hügel stand ein Schloss. Darin wohnte der alte Zwingherr. Er hatte eine junge, schöne Frau. Die war sein böser Geist. Wenn der Zwingherr seine Untertanen mit Härte und Grausamkeit behandelte, dann war es sicher die Frau, die ihm dazu geraten hatte.
Unten am Hügel floss ein Bach das Tal hinaus. Daran stand eine alte Mühle. Sie war schon halb zerfallen. Niemand wollte mehr darin wohnen. Nur arme Handwerksburschen, Scherenschleifer, Hausierer und Chacheliringger suchten gelegentlich dort Unterschlupf für die Nacht. Manche von ihnen kamen nicht mehr lebendig heraus. Man fand noch ihre abgenagten Gebeine. Gruselige Geschichten erzählte das Volk darüber.
Eines Abends kam ein junger Soldat ins nahe Dorf und kehrte im Wirtshaus ein. Dort hörte er, was man von der alten Mühle berichtete. Da fasste er plötzlich einen kühnen Entschluss und rief: „Ich will diese Nacht in der verrufenen Mühle zubringen und sehen, was dort vor sich geht!“ – „Um Gottes willen, nein“, sagte der erschrockene Wirt, „tut das nicht, ihr kommt nicht mehr lebendig heraus. Ihr werdet von bösen Geistern mit Haut und Haar lebendig aufgefressen. Ein Häuflein abgenagter Knochen, das ist alles, was man morgen von euch noch finden wird.“ Doch der Soldat war von seinem Vorhaben nicht abzubringen. Er liess sich einen Schemel und eine Kerze geben und zog zur Mühle. Dort fand er ein grosses Zimmer, das noch recht gut erhalten war. Inmitten desselben zog er mit seinem Schwerte einen Kreis, stellte den Schemel hinein und setzte sich darauf. Die brennende Kerze nahm er zur Linken und das Schwert steckte er zur Rechten in den Boden. So wartete er der Dinge, die da kommen sollten. Noch blieb alles still, nur das Licht flackerte unruhig, als ob es fast nicht warten möchte auf das kommende Ereignis. Da - gegen Mitternacht näherte sich ein seltsames Geräusch dem Hause. Es brummte, heulte und schrie. Immer näher und näher kam es. Jetzt stieg es die Treppe herauf. Plötzlich flog die Türe auf, und herein stürmte ein ganzes Heer von kohlschwarzen Katzen. Die rissen die Mäuler schrecklich weit auf, bleckten ihre Raubtierzähne, fauchten und zischten und zeigten die Krallen. Hundert Augen glühten wie grüne Phosphorlichter, hundert Schwänze peitschten zornig die Luft. Sie kamen bis an den Kreis, und als sie nicht mehr weiter konnten, stiessen sie ein schauriges Wutgeheul aus. Der Soldat erhob sich und nahm das Schwert zur Hand. Inmitten der Katzen war eine, die nicht auf allen Vieren ging, sondern auf den Hinterbeinen stehend sich hoch aufrichtete und so herumstolzierte. Das musste die Anführerin oder die Königin sein. Sie trat an den Kreis heran und zischte gegen die Kerze, um sie zu löschen. Es gelang ihr nicht. Da beugte sie sich weit über den Kreis hinein und wollte mit der Pfote auf die Kerze schlagen. In diesem Augenblick blitzte das Schwert und hieb ihr das freche Tälpli ab. Ein ohrenbetäubendes Geschrei hallte durch den Raum, und dann floh das ganze Katzenheer in wildem Durcheinander zur Türe hinaus, die Stiege hinab und verschwand im Dunkel der Nacht.
Der Soldat wollte die abgeschnittene Pfote aufheben. - Da lag an deren Stelle eine feine, gepflegte Frauenhand mit zarten, schlanken Fingern. An einem derselben glänzte ein breiter, goldener Ring mit einem funkelnden Edelsteine. Wem mochte wohl diese Hand gehören?
Am andern Morgen kehrte der Krieger in die Wirtschaft zurück, erzählte dem Wirt sein nächtliches Erlebnis in der Mühle und zeigte ihm die abgeschnittene Hand. Da rief dieser: „Das ist der Zwingherrin Hand, ich kenne sie am Ring. Eine Hexe ist sie also, das ist jetzt klar erwiesen. Wehe dem Scheusal, wehe! Doch euch droht schwere Gefahr. Wenn der Zwingherr die Sache erfährt, wird er euch suchen, festnehmen und in den tiefsten Turm werfen. Dann werdet ihr die Sonne nie mehr sehen. Flieht - flieht!“
Der Soldat floh nicht. Er ging ins Gerichtshaus, erzählte dort die ganze Begebenheit noch einmal und legte die tote Hand auf den Tisch. Der Richter betrachtete sie eine Weile und sprach dann: „Das ist der Zwingherrin Hand, ich kenne sie am Ring.“ - Noch zur gleichen Stunde schickte er eine Schar Bewaffneter in die Burg, um die vornehme Verbrecherin zu holen. Im Verhör musste sie alle ihre Untaten bekennen, und noch am gleichen Tage endete die junge, schöne Hexe auf dem Scheiterhaufen.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch