Wenn der Tau sich abends in die Täler senkt und die Sennen ihre Herden am Brunnen tränken, wenn die Nacht das Tal einhüllt und der letzte Glockenton verklungen ist, vernimmt man in der Tiefe des Engstligengrundes am Weg nach Adelboden eine Stimme. Sie ruft und weint und ächzt bis zum Morgengrauen. Wer es weiss, was die Stimme bedeutet, der bekreuzt sich, betet ein Vaterunser und geht still seiner Wege. Jedermann im Tale ist es inne, dass es der Geist von Jörgens Änneli ist, der hier reuevoll das unselige Ende eines unglücklichen Mädchens beklagen muss bis zum jüngsten Tag. Änneli war heimlich mit seines Vaters Knecht Franz versprochen. Der Vater aber wollte sein Kind einem reichen Händler vergeben. Eines Tages traf es sich, dass Franz und der Händler zusammen zur Alp steigen mussten, um die Herden zu besichtigen. Unterwegs wurden sie von einem furchtbaren Gewitter überrascht. An jäher Fluh, an welcher nur ein handbreiter Pfad vorüberführte, schlug der Blitz vor ihnen in den Boden. Der Händler war darüber so erschrocken, dass er ausglitt und in den Abgrund stürzte. Sterbend übergab er Franz seinen Geldgürtel mit allem was darinnen war, da er niemand hatte, der ihn hätte beerben können. Auf Franz aber fiel der Verdacht, den Händler getötet zu haben. Es wurde ein Landtag einberufen und der arme Geselle trotz der Beteuerungen seiner Unschuld zum Tod am Rad verurteilt. Als Jörgens Änneli das Auge des unschuldigen Geliebten nach. fürchterlichen Qualen erlöschen sah, verliess sie das Dorf und niemand hat sie je wieder gesehen. Die Leute sagen aber, dass sie den heissen Schmerz ihres brechenden Herzens in den kühlen Wassern der Engstligen gelöscht habe. Seither hört man das Greinen im Engstligengrund.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.