Hoch über dem Sommerdörflein Selden im Gasterental, dort wo eine alte Strasse über den Lötschberg nach Goppenstein im Wallis führt, liegen hinter der Gletscherkönigin Blüemlisalp wunderschöne Sommerberge Gfällalp benannt. Die stattliche Alphütte, die dort droben ihre stolze First in den blauen Himmel reckte, stand mitten in einem Felde glühender Alpenrosen. Dreien Brüdern war dieselbe von ihrem greisen Vater als Erbe zugefallen. Als sie nun wieder einmal zu Ende der frühlingswarmen Austage mit ihren Herden ihr Bergheim auf Gfällalp bezogen, gerieten sie untereinander über die Teilung der Weiden in Streit. Wenn Uli, der Jüngste, seine Kühe nach dem Stocki trieb, fand er bereits Menk, den Ältesten, dort, der mit ihm zu schmälen begann. Richtete er seine Schritte nach Schönbühl, konnte er sicher sein, dass ihm von dort die Leitkuh seines Bruders Jörg entgegenlief, welche die grosse Treichelglocke trug und die Herde beisammenhielt. Sie brüllte ihn an, als redete aus ihr die Stimme des Zweiten: "Was hast du hier zu schaffen, Schönbühl ist meine Alp!" So ging über dem Streit ein guter Teil des Sommers dahin. Uli musste mit bitterem Schmerz zusehen, wie er von Tag zu Tag mehr verdrängt wurde. Zuletzt wollten ihn die beiden andern nicht einmal mehr in der Hütte schlafen lassen. Da sprach er eines Morgens, als er die kalte Nacht unter einer Felsbalm zugebracht hatte, zu den andern: "Brüder, lasst uns die ungerechte Sache beenden. Der himmlische Richter hat mir einen Weg gewiesen. Hier sind drei Strahlen, die ich am Gletscher gefunden. Der eine hat einen rötlichen Glanz, das ist Gfäll mit der Hütte in den Bergrosen und was darum liegt. Der lautere Kristall hier soll das Schönbühl bedeuten und der dunkle das Stocki. Hier lege ich sie zum Zeichen auf das Wandbrett neben das Kreuz. Geh jeder und suche am Gletscher nach Strahlen und was er erst findet, das soll ihm sein Eigentum weisen." "Einverstanden!" riefen die zwei, denn sie dachten in ihrem argen Herzen: "Wir wollen dich schon meistern, du dummer Bub!" Sie gingen wie sonst an ihr Tagewerk. Als sie dann des Abends auf Gfäll wieder zusammentrafen, sprang der Jüngste den beiden Älteren freudestrahlend entgegen. "Die Hütte ist mir!" rief er ihnen zu. "Gott hat mich einen Rosenstein finden lassen." Da lachten die beiden andern hämisch, griffen in ihre Hirtentaschen und zogen jeder je drei Strahlen heraus, einen roten, einen rein weissen und einen dunklen. "Unser ist die ganze Alp, Hansnarr! Gott hat es selber gefügt und du sollst unser Knecht sein."
Da ergrimmte Uli in seinem Innersten. "Betrüger seid ihr!" schrie er. "Lieber will ich des Teufels Knecht sein, als der euere." Damit lief er dem Leitibach zu. Sie dachten, er will sich ersäufen, und keiner rührte sich, ihn daran zu hindern. Aber Uli dachte nicht daran, schwenkte vom Bach weg in die Bergstrasse hinüber, denn er wollte sich dem Bischof von Sitten als Kriegsmann stellen. Als er jedoch den Gletscherkamm hoch oben auf dem Berg erreicht hatte, wo es gegen Wallis zuging, stand ein glänzender Stern über ihm.
Da sank er auf die Knie, weinte bittere Tränen, dass er von der geliebten Heimat scheiden müsse und sprach: "Gott erbarm dich meiner!"
Wild floh er bergab und taleinwärts. Hinter ihm aber verfinsterte sich der Himmel. Wilde Wolken umflogen die Gipfel und mitten in der Sommernacht fiel ein furchtbares Schneegestöber. Am Morgen aber kam die brennende Sonne darein, die löste an den Bergseiten grosse weisse Felder die von allen Seiten zu Tal gingen. Hinweggewischt war die stattliche Hütte auf Gfäll und tief unter klafterhohem Schnee lagen Herden und Hirten ben. Uli aber ist bald hernach in der Schlacht des Bischofs umgekommen. Seither war Gfällalp verflucht, denn die Geister der Unseligen gingen darauf um, und wer seine Herden hinauftrieb, den störten sie fortan im friedlichen Tagewerk. Lawinen fuhren hernieder, die Bergweiden zu verwüsten, fallende Felsen töteten das Vieh, bis eines Tages ein Mönch auf der Reise vom heiligen Lande die Strasse über den Lötschenberg zog. Der trug einen heiligen Spruch bei sich, dem alle bösen Geister weichen mussten. Damit bannte er die ruhlosen Seelen der unredlichen Brüder in einen hohlen Lärch, schlug einen Pfropfen auf das Loch und verschaffte den Älplern Friede und Ruhe. Längst wäre die Untat vergessen, wenn nicht noch heute die Lärche mit dem Pfropfen an die unseligen Tage des Bruderzwistes erinnerte.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch