Von Unterseen weg bis auf die Grimsel und bis gegen Gadmen hin und unter Leuten, die nichts voneinander wissen, nicht aber im Simmental noch Frutigen oder Saanen, auch nicht im Wallis oder jenseits der südlichen Alpenkette, herrscht der beinahe einhellige Glaube, dass zuweilen nach einer schwülen Hitze oder wenn das Wetter bald ändern will
sich eine Art von Schlangen mit ganz kurzen Füssen sehen lasse, die von den Landleuten ihrer kurzen Füsse wegen Stollenwurm genannt werden. Es sollen sehr kurze und dicke Schlangen sein mit einem fast runden Kopf, ungefähr wie derjenige einer Katze. Dieser Wurm richte, so lautet die Sage weiter, besonders unter dem Vieh grossen Schaden an, indem er dasselbe erwürge und ihm das Blut aussauge. Die Menschen aber liesse er unbehelligt. Im Guttannertal, gegenüber dem kleinen Dörfchen im Boden ist jenseits der Aare ein Stück Land, der Tanzboden geheissen, auf welchem ein Gaden stand. Der obere Boden desselben war mit Heu gefüllt. In dieser Streue bemerkten die Eigentümer wiederholt ein niedergetretenes Lager, als ob ein grösseres Tier sich dort gebettet hätte. Einmal als der Senn nachsehen wollte, fand er einen hässlichen Stollenwurm drin liegen, vor welchem er die Flucht ergriff. Das Tier soll noch in unseren Tagen in jenen Tälern gesehen worden sein.
Ein Hirt im Gadmental erzählt: Es gibt zweierlei Stollenwürmer, weisse mit Krönlein auf dem Haupt, und schwarze, die gemeiner und häufiger sind. Ein verwegener Mann, welcher sich auf Zauberei verstand, zog eines Tages, um seine Kunst zu zeigen, einen Kreis um sich und bannte darauf mit Pfeifen das Gewürm in solcher Menge herbei, dass es rings um den Kreis. wimmelte. Doch er pfiff trotzig fort und fort bis ein paar Würmer aus der Ferne auf ihrem Rücken einen ganz besonders dicken und abscheulichen Stollenwurm dahergebracht und alsobald ihn über den Kreis hinein gegen den Zauberer warfen, der laut ausrief: "Ich bin verloren!" Im Augenblick war er von dem Ungeheuer zerrissen.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.