Der ungetreue Bernläufer

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Im Dorfteil „Bort“ hinter der Kirche gerieten einmal zwei nachbarliche Wohnhäuser in Brand. Die züngelnde Glut frass das alte dürre Holzwerk mit solchem Eifer zusammen, dass das von Alt und Jung in der Kette mit Melchtern herbeigeschaffte Wasser nicht viel mehr nützte als ein Tropfen auf einen heissen Stein. Auch der um Hilfe angegangene Feuerbanner in Oberried wurde mit dem Bannspruch erst gräch, als die Dachstühle krachend eingebrochen waren.

Zwei Börtler, worunter der Bernläufer der Gemeinde, waren durch die Brunst um Hab und Gut gekommen. Ihre Not zu lindern, schrieb der Pfarrherr den gnädigen Herren zu Bern, sie möchten ein Gleich tun, denen beiden Bürgern etwas an den Schaden steuern, ansonst sie gänzlich der Armut anheimfielen. Und da die Herren ein Einsehen hatten, händigten sie dem Läufer von Brienz auf einem nächsten Gang ein hübsches Sümmchen aus, mit der Weisung, es fürsorglich heimzubringen.

Auf der Heimreise aber stüpfte den Mann der Teufel. Mit den blanken Talern, die er auf sich trug, würden Zweie nicht an den Stubensöller gumpen können. Überhaupt, der Nachbar ist ein Einfalt, der sich nicht von heut auf das morgen besinnt. Der dürfte den Schnabel doch nicht auftun, wenn ich seine Hälfte Batzen zu meiner Hälfte schlüge. Zusammen gäb’ es mir so viel, dass ich mich wieder kehren könnte.

Gedacht, getan. Bevor gar lang verstrich, sass der Läufer in einem stattlichen Bauernhaus mit einer schönen Hofstatt nahe der Birgisgasse im Oberdorf und tat wie ein gemachter Mann, dieweil der einstige Nachbar vom Bort gedrückt und müde an seinen Fenstern vorüberging und in der Armut fast verdarb.

Jahre vergingen. Aus dem Läufer wurde ein alter Mann am Stecken, mit viel Zeit, dem hinter sich gebrachten Leben nachzusinnen. Das böse Gewissen brachte es dann fertig, aus ihm einen wunderlichen Kauz zu machen, der andern Leuten aus dem Wege ging und sich schliesslich nicht mehr aus dem Hause traute. Als er endlich starb, ohne das Unrecht gut gemacht zu haben, kam seine Seele nimmer an die Ruhe. Da hockte er denn zu gewissen Zeiten des Nachts auf dem Holzbänklein vor dem Dörrofen neben dem Hause, den Kopf unter einem Arme haltend, wie die Leute sagten. Hier erschreckte er mit seiner grausigen Gestalt die Vorübergehenden. Einen jungen Burschen, der einmal beherzt auf ihn losging, packte ab dem schauerlichen Anblick das Entsetzen, und mit einem hochgeschwollenen Kopf und einer bösen Krankheit im Leibe musste er umkehren. In dem Hause aber wollte viele Jahre niemand mehr wohnen, bis einmal ein gottesfürchtiger Mann Haus und Hof erwarb, wodurch der Läufer endlich an die Ruhe kam.

Quelle: Albert Streich, Brienzer Sagen, Interlaken 1938.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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