Es gibt eine Zeit im Jahr, wo alle Schätze offen stehen, nämlich in der heiligen Weihnacht. Wer das Glück hat, in den zwei Stunden vor Mitternacht, während die «Leng Wil» geläutet wird, zu einem Schatz zu kommen, kann ihn leicht haben. Solange die Glocken läuten, darf er aber den Schatz nicht anrühren und ihm auch kein Auge abbrechen, nicht einmal blicken. Erst bei der Wandlung in der Mitternachtsmesse darf er den Schatz heben. Es hat immer geheissen, im Beinhaus von Kippel sei ein Schatz verborgen, den noch niemand heben konnte.
Ein Mann von Kastel, er soll Andres geheissen haben, hat sich vorgenommen, den Schatz zu gewinnen. Zu Anfang des Mitternachtläutens war er schon in der Beinhauskapelle. Wie gingen ihm die Augen auf, als zu Beginn der «Leng Wil» der Boden vor dem Altar sich öffnete und der Schatz in allen Farben schimmerte. Nun hiess es die Augen offen halten und nicht einmal blicken , zwei Stunden lang. Die Stunden flossen langsamer dahin als im Fegfeuer. Schon nahte die Mitternachtsmesse. Die Kirchgänger zogen plaudernd an der Beinhaustüre vorbei. Ihre Schuhe kreischten im gefrorenen Schnee. «Wenn es nur keinem einfällt, die Türe zu öffnen und hereinzuschauen», dachte Andres. Schon fällt der Hammer auf die grosse Glocke zum ersten Schlag der Mitternachtstunde. Noch hat Andres nicht geblickt, und der Schatz kann ihm nicht mehr entgehen. Aber jetzt geht die Türe auf und er hört die Stimme seiner lieben Dorothe: «Komm Andres, sonst findest du keinen Platz mehr in der Kirche.» Dieser schaut zurück. Der Schatz ist verschwunden und Andres weiss nicht einmal mehr, was er gesehen hatte. Andres ist seiner Dorothe nicht bös geworden. Er hat nur gesagt: «Ein Schatz hat mir den andern gestohlen, und ich meine, es ist der richtige gewesen.» Der Schatz im Beinhaus wäre noch immer zu haben.
Quelle: J. Siegen, Sagen aus dem Lötschental, Erweiterte Ausgabe der Gletschermärchen (1905), Lausanne 1979.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.