In dem Dorfe Grandvillars lebte einst ein leidenschaftlicher Jäger, namens Chilier, der des Sonntags oft den Gottesdienst vernachlässigte, oder ihm nur flüchtig auf dem Kirchhof beiwohnte, um ganz seiner wilden Jagdlust frönen zu können. Nach seinem Tode wollte man ihn auf dem Gottesacker der Pfarrkirche, der ehemals auf jenem Hügel stand, wo jetzt noch die Kapelle der Dauda steht, begraben; allein die Pferde konnten oder wollten seinen Leichnam nicht weiter ziehn, als bis zur Stelle, wo sich jetzt noch auf diesem Hügel ein hölzernes, altes, mit Moos bedecktes Kreuz befindet, da man ihn also begraben musste. Nach seinem Tode hat der Geist des Chilier noch lange Zeit hindurch als wilder Jäger, besonders während der Jagdzeit die Nächte vom Sonnabend zum Sonntag sein Wesen getrieben. Sobald die Betglocke geläutet hatte, hörte man in den Wäldern und jähen Halden ob Grandvillars das Schmettern der Jagdhörner, das Ho - ha -ho des Jägers und Rüdengebell. In einer dort gelegenen Voralp hielt er gewöhnlich Rast, um seine zerstreuten Hunde wieder zu sammeln und das erlegte Wild in einer Felshöhle aufzubewahren. Kaum dass die Sennen es dort aushalten konnten. Wenn sie sich nicht ganz still verhielten, verheerte er alles auf dem Vorsatz, zerschlug Dach und Zäune, gruben seine Hunde tiefe Löcher in den Boden, wurden endlich die Kühe im Stalle des Stafels auf unsichtbare Weise gequält und gepeinigt, dass sie laut brüllten und am andern Morgen nur wenige und schlechte Milch gaben.
Ein junger unerfahrener Küher, der vor der Alphütte stand, als der Nachtjäger ankam, schrie ihm einst keck entgegen: "Ho, ha, ho, ha!" welches Wagnis ihm jedoch schlecht bekam. Plötzlich, obschon der wilde Jäger noch fern war, erhielt er einen so heftigen Stoss in den Rücken, wie mit einem Gewehrkolben, dass er blutrünstig gequetscht und halb ohnmächtig zu Boden sank, wo ihn die Sennen erst am folgenden Morgen vorfanden und aufheben konnten, da sie nicht gewagt hatten, während des Jagdsturms aus dem Staffel zu treten, der von den bellenden Hunden die ganze Nacht hindurch wie umlagert gewesen war. Diese hatten dem daliegenden jungen Aelpler jedoch nichts Leides getan, sondern bloss berochen und beschnüffelt, bis sie sich mit dem unruhigen Jäger wieder entfernt hatten. Gewöhnlich fand man am Morgen nach solchen Nächten ringsum Spuren von Blut, Gemsen-, Hasen-, Fuchs- und Dachshaare und Tritte von Menschen und Hunden. Von dem erlegten Wild fand sich in dem Felsenkeller jedoch niemals etwas vor. Das hatte der wilde Jäger bis auf die letzte Fuchsklaue zu sich genommen.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen, Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch