Einer der grössten und ältesten Bäume des Aargaues ist die Linde am Bötzberge, welche dem Dörfchen Linn daselbst den Namen gegeben hat. Jeder ihrer Aeste ist ein eigener mächtiger Baum voll zahllosen Gezweiges. Ehe der Sturm ihre höchste Krone gebrochen hatte, war, wie ein dortiger Mann darüber sich ausdrückte, ihr Wald noch viel grösser. Sie steht etwas weiter drinnen in der Bergebene; dennoch überragt sie die vor ihr aufgewachsene Tannen- und Laubwaldung, dass man den einzelnen Baum meilenweit im Umkreise darüber hervor schauen sieht. Auf einer Seite ist der Stamm klüftig und morsch; gleichwohl schiesst er aus der geborstenen Rinde neue frische Aeste von Eichendicke hervor. Ein paar Ellen hoch kann man in die Höhlung hinein steigen. Wie erstaunt man, in solcher Höhe neue Wurzeln aus dem Jnnern von oben her kommen zu sehen, Luftwurzeln, die selbst wieder in Stammesgrösse keck in die leere Höhlung hinunter nach Boden suchen. Ein leiser Luftzug durch die Wipfel erinnert den darunter Liegenden an ein brandendes Gewässer. Man meint, ihr Schatten könne bis auf das entlegene Birrfeld hinüber reichen, wo jener Schicksalsdorn steht, dessen Absterben den Untergang des Landes zur Folge haben soll. (Vgl. Dornstrauch am Birrfelde) Andere sagen, die Welt gehe unter, sobald ihr Schatten auf die näher gelegene Ruine von Habsburg am Wülpelsberge falle, und man bewährt dies mit dem Spruche, der sich auf den einstigen Bewohner dieser Burg, auf Rudolf von Habsburg bezieht:
Leit d'linde-n-ihr's chöpfli ûf s Ruedels hûs,
se-n-isch mit alli welten ûs.
Band 1, Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856, Seite 62
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.