Es war nach Maria Himmelfahrt, als ein Bauernbüblein aus dem Dorfe Einsiedeln im Kanton Schwyz hinausging, um den Heimweg nach seinem abgelegenen Dörflein Untersyten anzutreten. Es hatte dem Ankenbabeli in der Schmiedgasse eine große Butterballe gebracht. Dafür trug es jetzt auf seiner Traggabel allerlei Eßwaren, die sorgfältig in ein Bündel gebunden waren.
Als der Brandeggtöneli, so hieß der Kleine, auf die einsamen und weiten Weiden des Waldwegs kam, wurde er schläfrig, und die Last auf seinem Rücken drückte ihn immer mehr. Da war es seltsam. Obwohl es Hochsommer war, stieg auf einmal ein Nebel aus dem Tale der Troglosen herauf und hüllte alles ein, so dass der Brandeggtöneli Weg und Steg nicht mehr recht zu sehen vermochte. Eine Zeitlang lief er ruhig auf dem Weg weiter, den er sicher unter den Füßen fühlte und der ihn schon ins Dörflein leiten würde.
Da war ihm, als höre er neben sich im Nebel ein Flügelschlagen und ein Seufzen. Verwundert schaute er nach allen Seiten, sah aber nichts. Kaum war er wieder ein paar Schritte gelaufen, hörte er das Flügelrauschen hart hinter sich, und als er sich erschrocken umsah, hörte er's neben und dann über und dann vor sich, also daß er sich erschrocken ringsum drehte. Und nun wußte er auf einmal nicht mehr, wo vorne und wo hinten war und nach welcher Richtung er gehen müsse, um heimzukommen. Das hatte ihm ja wohl der Vogel Huppert angetan, der auf dem Waldweg spukte.
Voll Angst und Betrübnis setzte sich Töneli auf das Grabenbord neben den Weg, um zu warten, bis sich der Nebel verziehe. Dabei schaute er sich immer ängstlich um, ob nicht der Vogel Huppert irgendwo aus dem Nebel auftauche und ihm ins Haar fahre. Als aber der Nebel gar nicht weichen wollte, fing er erbärmlich zu weinen an.
Plötzlich war ihm, als höre er nicht weit weg ein Lachen, Es war ihm gar, es sei seines Vaters Stimme, die lache. Erfreut und wie erlöst sprang er mit seiner schweren Last auf und eilte in den Nebel hinein, doch er fand niemand. Wie er aber genauer zusah, gewahrte er etwas Dunkles im Nebel. Er lief rasch darauf zu. Da war ja wohl eine alte Frau, die, am Boden kniend, ihren Mooskartoffelacker jätete. Es war aber nur eine Erlenstaude, als er dabeistand. Doch schon erblickte er wieder etwas im Nebel. Das mußte ganz sicher ein Mann sein, der das Feld aufhackte. Er machte sich rasch auf den Schatten zu, und da stand er vor einer verkrümmten und verwitterten Torfwurzel. Und nun fiel es ihm ein: Wo war jetzt der Heimweg? Umsonst lief er im Nebel herum, er fand ihn nicht wieder. Plärrend rief er nach der Mutter. Es kam ihm aber keinerlei Echo. Aber immer nasser wurde der Boden. Und auf einmal jagte ihn ein Seufzer hart unter seinen Füßen weiter und immer weiter. Endlich konnte er nicht mehr. Müde fiel er in die Knie, streifte die Traggabel ab und legte sich bäuchlings ins weiße, feine Wollgras. Weinend verbarg er das Gesicht in den Händen.
Als er nach einer Weile wieder aufsah, die Augen voll Tränen, war ihm, er müsse grad umkommen vor Schrecken: ein schneetaubenweißes Gesicht mit grasgrünen Augen sah ihn lächelnd, gerade wie er auf die Ellbogen gestützt, aus ein paar Erlenstauden hervor an. Er wollte auf und davon. Doch vor Entsetzen konnte er kein Glied bewegen. Das war ja wohl eine Troglosenwasserfrau. Also war er im dichten Nebel in die Sümpfe der Troglosen geraten. Er verbarg das Gesicht im Wollgras.
Da war ihm, als höre er ein seltsames, trauriges Singen, und es wollte ihn bedünken, eine weiche Hand streiche ihm über den Flachsschopf, und auf einmal hörte er eine Stimme, die sagte: "Büblein, heute ist der Tag, der sich nur alle hundert Jahre wiederholt, an dem wir erlöst werden können. Wenn du uns erlösest, so wollen wir dich reich und glücklich machen. Du mußt aber die Wasserrose abreißen, in deren Wurzel unsere Seelen bis zum Jüngsten Tage eingeschlossen sind. Wenn es dir gelingt, sie zu bekommen, so verwandelt sie sich in deiner Hand in reines Gold, und du wirst schöner singen können, als es jemals ein Mensch gekonnt hat."
Jetzt hörte er wieder das Flügelrauschen über sich, und wie er aufsah, erblickte er in einer Staude ob sich einen seltsamen Vogel, sah fast aus wie ein Uhu. Aber vor ihm war der Nebel etwas gewichen, und da sah er zu seiner Verwunderung, daß er an Bord der Troglosensihl gelegen hatte und daß hart vor ihm die unheimlichen stillen Wasser des Flüßleins dahinzogen. Die Wasserfrauen aber waren spurlos verschwunden. Nur eine Armslänge von ihm weg schaukelte sich in der Flut eine wunderschöne Wasserrose.
Eine Weile schaute er sie mit bedenklichen Augen an. Dann faßte er sich ein Herz und wollte es wagen, die armen Wasserfrauen zu erlösen. Er erhob sich auf die Knie, immer mehr beugte er sich vor, und schon sah er deutlich, wie die Blattspitzen der Wasserrose sich golden zu färben anfingen. Und jetzt war er der Blume schon nah. Aber immer wieder, wenn er sie mit der Hand zu fassen meinte, trieb sie eine kleine Welle seitlings ein wenig ab, also daß er immer daneben griff. Doch nun hatte sein Finger den Stengel berührt, da ward sie über und über wie flüssiges Gold, ein Riß, er mußte sie haben. In diesem Augenblick sah er unter sich ins Wasser und erblickte wohl ein Dutzend meergrüne Augen, die ihn alle ansahen wie die ewige Verdammnis.
"Jesus Heiland!" schrie er auf, ließ die Wasserrose entsetzt fahren und kletterte in Todesängsten ans Ufer zurück, denn er war schon bis an die Beine hinein in die unheimlich gurgelnde Sihl geraten, die in der Troglosen still und tief ist wie ein See. Aber über ihm aus der Erle schoß der Vogel davon.
Als sich der Brandeggtöneli nochmals nach der Wasserrose umschaute, war der Nebel mit einem Male spurlos verschwunden. Vor ihm lag das weite Tal, und hinten im Tale standen wie immer die Yberger Alpen und das eisstarrende Vrenelisgärtlein. Fernher aber klang das Läuten des Willerzeller Abendglöckleins.
Da nahm das Büblein zitternd seine Traggabel auf, tat noch einen langen Blick nach der gespenstigen Wasserrose, und da wurde es auf einmal Nacht. Nun wußte er gar nicht, was er anfangen sollte. Aber da stieg ein Lichtlein aus der Troglosensihl und ging immer vor ihm her, und er lief ihm nach, bis er durch die grause Schlagenschlucht war und endlich die Fensterscheiben des Dörfleins Untersyten erblickte. Jetzt verschwand das Lichtlein, und bald war er zu Hause.
Wie wunderten sich aber die Leute, als der Brandeggtöneli am andern Morgen ein gar schwermütiges Lied durchs Dörflein sang. Noch nie hatten sie jemanden so schön und so traurig singen hören. Er sang es die ganze Woche hindurch, aber obwohl es ihm viele Leute ablernen wollten, konnte doch keiner die seltsamen traurigen Töne behalten. Als nun der Sonntag gekommen war und der Brandeggtöneli aus der Kirche kam, wo er die Marienlieder hatte mitsingen müssen, konnte er danach das Lied der Troglosenwasserfrauen nur noch pfeifen. Doch wie sehr auch die Buben den Schnabel spitzten, keiner konnte ihm's nachmachen. Wie er aber am Sonntag darauf wieder aus der Kirche kam, da war ihm das Lied für immer aus seinem Gedächtnis entschwunden.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.