In einem sonnigen Seitentälchen des schwyzerischen Sihltales liegt das Dörflein Euthal. Dort saß einst der alte Dolmetscher in der Kirche. Während der Predigt schaute er einmal auf die Weiberseite hinüber. Da sah er drüben eine Frau sitzen, die man für eine Hexe hielt, die ihn eben mit großen Augen unverwandt ansah. Aber auf einmal war sie verschwunden, und ihr Platz war leer, ohne daß es die zwei Weiber, die neben ihr saßen, zu bemerken schienen. Zuletzt meinte er, er müsse sich getäuscht haben, die Frau sei wohl gar nicht in der Kirche gewesen. Und nun sah er nicht mehr hin und hörte andächtig der Predigt zu. Als aber die Messe gelesen wurde, schaute er nochmals nach der Weiberseite, und nun erblickte er die Hexe wieder an ihrem Platze, so ruhig, als ob sie keinen Augenblick weg gewesen wäre. Wie die Kirche aus war, drängte sich der Dolmetscher rascher als sonst hinaus, also daß er mit der Frau am Weihbrunn zusammentraf.
Doch als er ihr mit seinem Daumen, den er immer aufstreckte, das Weihwasser abnehmen wollte, lief eine grüne Spinne von ihrem Finger über seine Hand. Aber wie er sie voll Ekel abschütteln wollte, fiel bloß ein Tröpflein Wasser auf den Boden. Als er nun mit dem verschrienen Weibe unter das Vorzeichen der Kirche trat, nahm er sie beiseite und erzählte ihr mit ernsten Augen, was er in der Kirche gesehen. Zugleich aber wollte er wissen, was das zu bedeuten hätte. Da wollte sie erst allerlei Ausreden brauchen. Schließlich aber sagte sie, wenn er ihr bei der Seligkeit seiner Mutter verspreche, es keinem Menschen zu sagen, bevor drei Jahre um seien, so wolle sie's ihm wohl zu wissen tun. Und als er's angelobt hatte, erzählte sie ihm flüsternd das Folgende: "Als du zum erstenmal zu mir herüberschautest, sah ich, wie der Teufel hinter dir stand und lachte. Im nämlichen Augenblick ging ein Windstoß um die Kirche, und der packte mich und trug mich übers Tal hinweg, also daß mir Hören und Sehen verging. Auf einmal stand ich mutterseelenallein in der Ahornweid, wo's ungeheurig ist, mitten im Herbstnebel. Wie sich der Nebel etwas verzog, sah ich hart hinter mir einen großen, breitästigen Ahorn stehen. Darunter saßen drei alte Frauen und spannen. Es war sonderbar, sie spannen alle drei an einem Faden, der rings um den Baum lief.
Als aber das Glöcklein im Euthal zur Wandlung läutete, schlossen die drei Frauen die Augen und schliefen ein. Da löste ich ein Fädelein vom Rocken der mittleren Spinnerin und warf es in die Luft. Und siehe da, es ging übers Tal hinüber bis zur Turmspitze des Euthaler Kirchleins. Rasch verwandelte ich mich in eine Spinne und lief pfeilgeschwind über den dünnen Faden nach der Kirche hinüber. Eben als ich wieder darin abgesessen war und die Messe zu Ende ging, sahst du zum zweitenmal zu mir hinüber. Da sah ich zwei Teufel hinter dir, die aus dem Fädelein, das vom Dach durch ein Fenster in die Kirche hinunterhing, einen Strick zu drehen begannen und dazu tanzten.
Aber da war die Kirche aus, und du sahst zu deinem Glück nicht mehr zu mir herüber auf die Weiberseite. Hättest du's noch ein drittesmal getan, so hätten dich drei Teufel mit dem Fädelein erwürgt, daß du von der Bank gefallen wärest."
Der Dolmetscher erschrak und sah mit ängstlichen Augen zum Kirchendache empor, von dem weg ein Fädelein übers Tal nach der Ahornweid zu laufen schien. Von da ab wohnte er der Predigt und der Messe andächtiger bei.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.