Unter dem Lauiberg beim kleinen Sihlsee auf den Yberger Alpen des Kantons Schwyz gibt's ein dreifaches Echo. Ja es gibt Leute, die schon ein vierfaches gehört haben wollen. Dort soll sich alle hundert Jahre das Echo zeigen, wenn man's in der Karfreitagsnacht anrufe, und den reich machen, der es zu erlösen vermag.
Es ist schon lange her. Da ging's denn auch wieder einmal um die Osterzeit. Als nun der Karfreitag da war, schlich sich ein kräftiger Bursche aus den Häusern am Karrenboden in Unteryberg [Unteriberg] bei Nacht und Nebel hinauf durch das enge Tal der wilden Sihl. Er wußte nicht warum, aber ihn überkam ein großes Verlangen, das Echo am Lauiberg zu sehen. Noch waren Berg und Tal verschneit, aber der Schnee trug, denn er war fest gefroren. Es mochte gegen Mitternacht gehen, als der Jungbursch endlich über die schönen Weiden der Obersihlalp hinauflief. Jetzt ging der Mond über dem Flaschberg auf und beleuchtete die Alp schier taghell, die ein Aussehen hatte, als ob ein Riese aus seinem Rieseneimer lauter geschwungene Nidel (Schlagrahm) über die Weiden ausgegossen hätte.
Unversehens nahte sich der Bursche dem Lauiberg, und auf einmal stand er am düstern Sihlseeli, das zu seiner Verwunderung nicht gefroren war und offen dalag. Nur von einem gähen Hange griff eine abgefahrene Lauine weit in die schwarze Flut hinein.
Jetzt wurde es dem Burschen doch etwas schwer. Kein Hauch und kein Leben war um das unheimliche Wasser, und finster schauten ihn die gegenüberliegenden Abstürze an. Doch nahm er sich zusammen und rief: "Im Namen Gottes, Echo, zeige dich!"
Dreimal kam sein Ruf kaum vernehmbar von den Ausläufern des Lauiberg zurück, aber nichts zeigte sich. Da rief der Bursche, kecker geworden, zum zweitenmal: "In Gottes Namen, Echo, zeige dich!" Von neuem widerhallte es dreimal aus den Flühen, und diesmal also deutlich, daß er schier erschrocken einen Schritt zurücktrat. Doch alles blieb tot und leer. Jetzt setzte er beide Hände an den Mund und rief zum drittenmal: "Im Namen Gottes, Echo, zeige dich!" Da kam sein Ruf so deutlich zurück, daß er sich, ängstlich auffahrend, umsah, denn es war, als hätte jemand neben ihm die Worte wiederholt. Und auf einmal sah er, wie sich aus einer Rinne am Abhang des andern Seeufers ein weißes Nebelchen löste, gegen das dunkle Seeli hinabgeisterte und über das offene Wasser gegen ihn heranschwebte.
Da packte ihn Entsetzen, denn wie er genauer hinsah, gewahrte er, wie sich das Nebelchen nach und nach in ein weißes Gewand verwandelte. Und nun sah er deutlich im Mondlicht ein wunderschönes aber bleiches Gesicht aus den weißen Gewändern auftauchen, das ihm freundlich zulächelte. Immer näher kam es, und seine langen Haare leuchteten wie lauter lötiges Gold. Jetzt sank er halbtot vor Grausen in die Knie, verdeckte die Augen und rief laut: "Jesus Maria!"
"Jesus Maria!" widerhallte es dreimal unsäglich traurig vom See her. Erst ganz nahe, dann ferner und zum drittenmal leise, kaum hörbar.
Wie er wieder aufschaute, gewahrte er nur noch ein weißes Nebelchen, das in der Bergrinne am andern Ufer eben zerfloß. Von der Mitte des düstern Seeleins an aber waren auf dem dunklen Wasser helleuchtende goldene Fußstapfen zu sehen, die zweireihig ins Gelände hinüberliefen. Lange staunte sie der Bursche an, und nun überkam ihn ein fürchterliches Heimweh nach dem Echo, das sich ihm gezeigt und das so wunderschön gewesen war. Es begann ihn bitter zu reuen, daß er nicht still gewartet hatte, bis es bei ihm ankam, da hätte er's wohl erlösen und den Schatz im Lauiberg gewinnen können. Traurig ging er heim.
Er konnte aber das verwunschene Echo nicht mehr vergessen. Noch zweimal stieg er in der Karfreitagsnacht hinauf trotz aller Warnungen seiner Großmutter. Aber wie er auch rief, das Echo zeigte sich nicht wieder. Als er aber das drittemal hinaufstieg, da war der kleine Bergsee fest zugefroren, doch lagen bis dahin, wo der junge Karrenbödler stand, die seltsamen goldenen Tapfen, die er einst auf dem offenen Wasser gesehen hatte. Er faßte sich ein Herz und trat in die goldenen Fußstapfen. Also kam er gut bis fast ans Ufer, wo aus der Bergrinne im Gehäng ein weißes Nebelchen aufzutauchen schien. Er blickte starr zu ihm hinauf, und nun hörte er ein wunderliebliches Klingeln. Er hastete wie wahnwitzig vorwärts. Schon war er dem Ufer nahe, schon war ihm, als sehe er etwas Goldenes in der Bergrinne blitzen, da ging auf einmal das Eis unter seinen Füßen auf, und er versank hart am Ufer in die dunkle Flut.
Wie er sich doch noch ans Bord brachte, weiß kein Mensch, denn das wußte er selber nicht zu sagen. Aber seit jener Nacht war er nicht mehr recht im Kopf. Er redete kein Wort mehr. Nur in den Vollmondnächten trat er oft ans Fenster und rief in die Nacht hinaus: "Im Namen Gottes, Echo, zeige dich!"
In hellen Nächten aber kann man die goldenen Fußtritte des verwunschenen Bergechos auf dem Sihlseeli noch sehen bis auf den heutigen Tag.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.