Einst lebte in der kleinen Walliser Hauptstadt Sitten auf seinem hochgelegenen Schloss Tourbillon ein heiligmäßiger Bischof, der St. Jodern (Theodor) hieß. In einer Nacht nun hatte der Bischof einen seltsamen Traum. Es wurde ihm darin kundgetan, daß der Heilige Vater in Rom in großer Gefahr schwebe, falls er nicht sofort gewarnt würde. In Schweiß gebadet und in schweren Ängsten erwachte der Bischof. Sogleich sann er angestrengt darüber nach, wie er dem Heiligen Vater wohl die Warnung zu wissen tun könnte. Er stand auf, trat ans Fenster und starrte sorgenvoll in die stille Nacht hinaus.
Da sah er nicht weit von seinem bischöflichen Palaste weg einen seltsamen, ungewöhnlich hellen Schein, den sonst ringsum die Dunkelheit umschloss. Und wie er verwundert genauer hinschaute, sah er drei Teufel, die fröhlich mit ihren Pferdefüßen auf dem hellen Schein wie auf einem Teppich tanzten.
Der Bischof rief sie an, und sie eilten sogleich gehorsam herbei. "Wer von euch ist der Geschwindeste?" fragte der Bischof. "Ich", sagte der erste Teufel, "ich bin geschwind wie der Wind." - "Nein", rief der zweite, "ich fliege so geschwind wie die Kugel aus dem Rohr." - "Das ist was Rechtes", höhnte der dritte, "ich durcheile die Welt wie ein Weibergedanke."
"Du bist mein Mann", sagte erfreut der heilige Jodern. Und nun machten sie aus, der Bischof müsse dem dritten Teufel seine Seele zum Lohn geben, wenn er ihn in der Nacht nach Rom trage und auch noch zurück, bevor die Hähne den Tag beschrien.
Zufrieden ging der Teufel den Handel ein. Flugs holte er einen schwarzen Hahn und setzte ihn als Wächter auf die Stadtmauer. Der heilige Bischof jedoch holte heimlich einen weißen Hahn und setzte ihn zuoberst auf die Kirchturmspitze. Jetzt lud der Teufel den Heiligen auf den Buckel und trug ihn über alle Berge im Hui nach Rom, der Ewigen Stadt. Dort warnte der Bischof den Heiligen Vater. Dieser schenkte nun dem heiligen Jodern als Belohnung eine schöne Glocke, die der Bischof sogleich dem Teufel aufbürdete. Obwohl das für den Bösen eine gar schwere Last war, ging's doch wieder im Flug heimwärts gen Sitten, also daß es noch finster war, als sie am Fuße des Bischofssitzes ankamen. Schon frohlockte der Satan, aber zu früh, denn noch bevor er den heiligen Bischof abzusetzen vermochte, fing der weiße Hahn auf der Kirchturmspitze aus Leibeskräften zu krähen an. Er hatte auf dem Turmspitz einen gar üblen Platz gehabt und immer wachbleiben müssen, um nicht herunterzufallen. Der schwarze Hahn dagegen, der es auf der breiten Stadtmauer gut hatte, war eingeschlafen. Aber wie er nun den weißen Hahn krähen hörte, wachte auch er auf und krähte mit. Der Böse schäumte vor Wut. Aber der Bischof war sogleich, wie er den Hahnenschrei gehört hatte, von des Teufels Rücken gesprungen und auf die Knie gefallen. Da packte der Satan die Glocke und warf sie rasend vor Wut nach dem Heiligen, und zwar mit solcher Gewalt, daß sie neben dem Bischof neun Klafter tief in die Erde hineinfuhr; dann machte er sich wie das böse Wetter davon. Der gerettete Bischof aber streckte die Arme aus und rief: "Dona, Dona läut!" Und da fing die Glocke im Boden zu läuten an und stieg läutend empor bis zuhöchst in den Kirchturm, wo sie im Glockenstuhl hängen blieb.
Die St.-Jodern-Glocke wird heute noch geläutet, wenn ein Ungewitter losbricht. Auf der Glocke aber ist der heilige Bischof abgebildet, wie er neben dem Satan steht, der die Glocke auf dem Buckel trägt.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.