Im Lande Unterwalden, am Vierwaldstättersee, hauste vor undenklicher Zeit ein fürchterliches Untier. Ob dem Dörflein Wyl [Wil] hatte es seine Höhle. Es war ein greulicher Lindwurm, der einen Schuppenpanzer um den Leib und messerscharfe Krallen hatte. Wenn er aus seiner Höhle durch die Luft schoß, sah er aus wie ein ungeheures, fliegendes Krokodil. Aus seinem Rachen aber konnte er Feuer speien. Die ganze schöne Gegend um das Dörflein wurde von ihm verheert und in Furcht und Schrecken gehalten, also daß man das Dörflein Wyl zuletzt Ödwyl nannte.
Der Drache verschlang nicht nur das Vieh, sondern auch die armen Hirten. Und wenn ein Hirtenbüblein sich noch so sachte und still mit seinem vollen Milchtanslein den Hecken und Wäldern entlang schlich, der Lindwurm sah es gewiß. Auf einmal schoß er heran, und weg war das Hirtenbüblein. Einmal suchten zwei arme Mägdlein Beeren in der Weid. Da schoß der Drache auch herbei und hätte gewiß beide verschlungen, wenn sie sich nicht im Farnkraut hätten verstecken können. So war denn weder Mensch noch Vieh des Lebens sicher.
Da erbot sich ein ritterlicher Mann namens Struthan, der aus dem Geschlecht der Winkelriede war, den Kampf mit dem Drachen aufzunehmen, wenn man ihn wieder in seine Heimat zurückkehren lasse, aus der er einst eines unbedachten Totschlages wegen verbannt worden war.
Die Unterwaldner nid dem Wald, die nicht mehr wußten, wie sie sich des Lindwurms erwehren sollten, sagten ihm's feierlich zu.
Jetzt kam der Ritter Struthan Winkelried ins Land und ging nach Ödwyl, wo der Drache in seiner Höhle hauste. Er hatte ein Panzerhemd an, und seine Lanze umwand er mit einem Dornbusch.
Plötzlich schoß der Drache feuerspeiend aus seiner Höhle und geradewegs auf den Ritter los. Schon dachten alle Leute, die von weitem aus den Wäldern zuschauten, jetzt sei's aus mit ihm. Doch Struthan Winkelried hielt dem Lindwurm die dornenumwundene Lanze entgegen, und blindlings fuhr dieser in seiner Drachenwut in sie hinein, also daß er nach kurzem, heftigem Kampfe daran erstickte.
Jauchzend eilte nun alles Volk herbei. Als aber der Ritter, schweißdampfend, die Lanze aus dem Ungeheuer herauszerrte, rann ihm etwas von dem Drachenblut auf den bloßen Arm. Obwohl er's gleich wieder abwusch, mußte er doch auch sterben.
Da trauerte das Volk um seinen Erretter aus großer Not und baute ihm auf der Stelle, wo er den Drachen erlegt hatte, eine Gedächtniskapelle.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.