Bei der Schöpfung bekam Ilmatütar, die Tochter der Witterung, den Auftrag, für die Vögel zu sorgen und sie zu schützen. Sie empfing im Frühling die heimkehrenden Vögel und stärkte und fütterte sie, wenn sie auf ihren Flug nach Norden ausruhten. Wenn der Herbst nahte sammelte sie wieder die Zugvögel und wies ihnen den Weg nach Süden.
Ilmatütar war die schönste der Himmelstöchter. Der Ruf ihrer Schönheit ging über den ganzen Himmel und so wollten die Gestirne selbst um sie freien.
Da kam der Abendstern zu ihr und begehrte sie zur Frau.
Doch sie wies ihn ab und sprach: «Du bist nicht dein eigener Herr, du bist nur der Begleiter der Sonne, jemand wie du taugt nicht zu meinem Gemahl».
Als eine kurze Zeit vorübergegangen war, fuhr der Polarstern in einer prächtigen Kutsche, gezogen von sieben blanken Falken, vor und brachte sieben Geschenke für Ilmatütar mit.
Doch sie nahm die Geschenke nicht an und sprach: «Ich will dich nicht zum Manne, du musst immer auf deinen dir vorgeschriebenen Platz bleiben und darfst dich nicht fortrühren. Solch ein Leben würde mir nicht gefallen».
Nicht lange darauf kam der Mond in einem silbernen Wagen, gezogen von zwölf herrlichen Schimmeln, vorgefahren. Er brachte zwölf reiche Geschenke mit, doch Ilmatütar wies auch den Mond und seine Geschenke ab und sprach: «Lieber Mond, du taugst nicht zum Ehemann. Du bist allzu veränderlich, auf dich ist kein Verlass».
Kurze Zeit später kam eine goldene Kutsche, bespannt mit vierundzwanzig Goldfüchsen, gefahren. Darin sass der Sonnenjüngling mit vierundzwanzig Brautgeschenken für Ilmatütar.
Doch sie wies auch den Sonnenjüngling ab und sprach: «Auch deine Frau will ich nicht werden. Tag für Tag musst du die gleiche Himmelsstrasse entlang ziehen».
Nun verging einige Zeit, da fuhr eines Tages ein diamantener Wagen vor, mit tausend Pferden bespannt und darin sass der Herr des Nordlichts und strahlte so hell, dass es die Augen blendete. Seine Diener aber sprangen vom Wagen und brachten Ilmatütar unzählige kostbare Geschenke: Gold, Silber und Diamanten.
Ilmatütar empfing den Freier, verneigte sich und sprach: «Du bist dein eigener Herr, du ziehst über die Himmel wenn es dir recht ist und ruhst dich aus, wenn es dir gefällt. Du erscheinst immer wieder in neuen Kleidern und immer anderen Gefährten. Du bist der richtige Gemahl für mich!»
Sie feierten zusammen das Fest der Verlobung und waren sehr glücklich miteinander.
Doch nach Mitternacht machte sich der Herr des Nordlichts auf den Weg und er sprach zu seiner Braut: «Bald komme ich wieder, schmücke dich mit meinen Geschenken und bereite alles zur Hochzeit vor».
Dann fuhr er mit seinem strahlenden Wagen davon und Ilmatütar bereitete das Hochzeitsfest vor.
Sie schmückte sich mit dem Geschmeide und legte den Brautschleier an.
Sie wartete und wartete.
Tage und Nächte vergingen, doch ihr Verlobter kam nicht wieder.
Sie wurde traurig und weinte vor Kummer und Enttäuschung. Der Winter ging vorüber und es wurde Frühling und nun bestand keine Hoffnung mehr, dass der Herr des Nordlichts mit seinen glänzenden Wagen und seinen blitzenden Rossen über den Himmel daher gejagt kommen würde.
In mitten blühender Blumen sass Ilmatütar in ihrem Brautschmuck, doch vor Kummer und Tränen sah sie nichts von der Pracht des Frühlings. In ihrem Kummer vergass sie auch, für die Vögel, die aus dem Süden herbei gezogen kamen, zu sorgen. Sie brachte ihnen keine Nahrung und wies ihnen nicht den Weg. Da flatterten diese hilflos umher und einige flogen zu Altvater, dem Schöpfer, und klagten ihm ihre Not.
Da zeigte Altvater Erbarmen mit den Vögeln und mit Ilmatütar. Er sandte seine Boten, die Winde, zur Erde hinab. Diese hoben die weinende Ilmatütar behutsam von der Wiese auf, trugen sie empor und betteten sie auf das Himmelsgewölbe. Damit sie aber nicht zur Erde zurück falle, heftete Altvater ihren Brautschleier mit den unzähligen Diamanten, mit denen sie geschmückt war, am Himmelsbogen fest.
Der Schleier ist heute noch zu sehen und wird die Milchstrasse genannt.
Ilmatütar bemerkte, dass sich um sie herum etwas verändert hatte. Staunend blickte sie sich um.
Ihr Herz wurde getröstet und sie begann aufs Neue für ihre Schützlinge zu sorgen.
Bis zum heutigen Tag leitet sie in Frühlings-und Herbstnächten die Züge der Wandervögel, wenn sie unter ihrem Schleier dahin ziehen.
Doch wenn der Winter kommt, ist ihre Freudenzeit.
Da geschieht es immer wieder, dass der Herr des Nordlichts mit seinen blitzenden Rossen über das Himmelsgewölbe gejagt kommt und Ilmatütar besucht.
Dann feiern die Liebenden ihr Wiedersehen und erneuern ihren Treueschwur. Doch heiraten können sie nicht, denn die Braut ist mit ihrem Schleier durch die Edelsteine am nachtblauen Himmel festgesteckt.
Der durchsichtige Schleier weht von einem Himmelsende zum anderen und die Diamanten, die der Herr des Nordlichts seiner Braut geschenkt hat, funkeln als leuchtende Sterne darin.
Fassung S. Früh, nach: H. Jannsen, Märchen und Sagen des estnischen Volkes, Riga, 1888
Siehe Beitrag in Märchenforum nr. 80. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.