Es arbeiteten einst zwei Männer im Walde am Holz. Gegen Abend ging der eine heim, um das Vieh zu hirten, und der andere blieb allein zurück. Da hörte dieser aus einem nahen Lawinental singen, beten und weinen. Lange hörte er erstaunt zu, dann ermannte er sich und ging auf das Schneefeld los. Von weitem meinte er zwei Frauenspersonen zu sehen; als er den Schnee erreichte, waren es drei, von denen die eine bis an den Hals, die andere bis in die Leibesmitte und die letzte kaum über die Füsse im harten Schnee versunken und eingefroren war. Die erste sang fröhlich, die zweite betete, und die dritte weinte bitterlich. Das setzte den Holzarbeiter in Staunen. Er fragte die singende Person, warum sie singe, da sie doch sicher am meisten friere und am meisten Ursache zu weinen hätte. »Mein Leiden geht bald zu Ende; bin ich ganz eingesunken, so ist die Stunde der Erlösung angebrochen, darum habe ich alle Ursache mich zu freuen, während jene dort mit gutem Grunde weint, da ihr Fegfeuer erst beginnt.« »Nicht der Frost, nicht die Schmerzen«, sagte jetzt auch die Weinende, »sind es, die mir die meisten Tränen entlocken, sondern der Gedanke, dass ich allein da zurückbleiben muss, wenn die andern zwei erlöst sein werden.« »Und ich«, er klärte die Betende auf des Holzers Frage, »freue mich, wenn ich bedenke, wie viel ich schon gesühnt, und Trauer überfällt mich, wenn ich an die lange Zeit denke, die ich noch zu verbüssen habe. Darum bitte ich Gott um seinen Trost.« Ernst gestimmt, in tiefem Sinnen verliess der Arbeiter den Platz im Walde und kehrte heim und erzählte seiner Frau und seinen Kindern, was er in jenem Lawinental gesehen und gehört.
Frau Arnold-Gisler, Bürglen
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.