1. a) Ein Ratsherr kehrte, wenn er die Ratsversammlungen im Hauptorte besuchte, immer im nämlichen Wirtshause ein. Jedesmal, wenn er das Wirtshaus verliess, stand die Wirtin vor der Türe oder am Fenster, schaute ihm nach und lachte so kurios. Nun, der Ratsherr war auch ein leidenschaftlicher Hochwildjäger. Als er einmal eine Gemse geschossen hatte und hinging, sie auf seine Schultern zu laden, war sie verschwunden, und an ihrer Stelle lag nichts anderes als – ein dürrer Maijen, wie ihn die Weibervölker auf dem Hute tragen, und den steckte er auf seinen Hut. Bald hernach kam er wieder in den Hauptort und besuchte sein gewohntes Gasthaus. Die Wirtin liess sich diesmal nirgends blicken. Der Wirt hingegen betrachtete lange und scharf des Ratsherrn Kopfbedeckung und platzte endlich mit den Worten heraus: »Wennd's migli wär, sä seit-i, dü hättisch myner Fräuw der Mäijä-n-uff dym Hüet!« Die Wirtin aber wurde nie mehr gesehen, sie war und blieb verschwunden.
Jos. M. Epp, Etzlital
b) Nach einer Erzählart von Gurtnellen war der Jäger ein noch lebender Bauer aus den Kilchbergen zu Silenen. Als er einmal mit seinem auf die oben beschriebene Art erworbenen Maijen nach Altdorf kam, beschauten ihn alle Leute und sagten, das sei der Maijen der Frau Landammann. Die Frau Landammann war aber seit geraumer Zeit verschwunden.
Jos. Gamma, 30 J. alt
2. Ein Wassner Jäger streifte oft am Rienzen herum. Eine Gemse stellte sich mehrmals auffallend und neckte ihn. Er durfte nicht schiessen. Auch Freunde, denen er davon erzählte, rieten ihm davon ab. Es würde zuerst ihn töten, sagten sie. Endlich tat er Gesegnetes in das Pulver, und das nächste Mal schoss er. Die Gemse fiel in einen engen, tiefen Krachen hinunter, und nur ein Stück eines blauen, rotgestreiften Weiberrockes blieb sichtbar. Als er heimkam, war die eigene Frau verschwunden und kam nicht mehr zum Vorschein. Sie war die erschossene Gemse gewesen.
Fr. Wipfli-Baumann, 70 J. alt, u.a.
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.