Das Krämerlital

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

An einem frischen Herbstmorgen schlaufte Johannmarie die Büchse über die Schulter und stieg auf den Grat. Eine Gemsherde überraschend, schoss er beide Läufe ab und fehlte das Ziel, und doch war er ein sicherer Schütze. Verdrossen schlich er dem Rudel nach und verlor Sicht und Fährte, zuletzt auch einen alten Bock, der etwas zurückgeblieben war. Er konnte sich gar nicht ausdenken, wohin die Tiere sich geflüchtet hatten.

Der Bock liess ihm keine Ruhe. Auf und nieder querte er Geröll und Schneepletschen, Runsen und Klippen, und der Verfolgung müde warf er sich wie gerädert auf die Zinne. Er hatte noch keinen Bissen genossen, an keinem Wasser getrunken. Er zernagte die Lippen, krampfte die Fäuste und verwünschte den Tag mit seinem Missgeschick.

Auf die Füsse springend, wischte er die Augen, wie um besser sehen zu können. Schräg in die Tiefe grad über öffnete sich ein Tal, ihm völlig fremd, und doch hatte er die Gegend bis in alle Mulden hinaus erforscht und abgeschritten. Von niedrigen Hütten war es übersät, deren Fenster in der Abendsonne wie Goldtropfen glühten. Blaue Räuchlein kräuselten pappelschlank in die Luft; bis auf die Felsen begrast und begrünt war das Gehänge, Lärchenwälder, rot überhaucht, warfen tiefe Schatten. Vor den Hütten waren Blumen und Krautgärten, Apfelbäume, überglitzert von Frucht und welkendem Laube. Birken und Kirschbäume loderten im Feuer der scheidenden Sonne.

Zwischen den Häusern gingen steinalte Leute gebückt, fast zwiefach einher, von der Weide stieg der Hirte mit der zappelnden Schar der Gemsen ins Dorf nieder, eine jede trug eine Schelle am Hals und trappelte dem Stalle zu. Die Frauen brachten ihren Tieren das Geleck und sassen zum Melken auf ihre Hocker. Zuletzt erschien der lahme Gemsbock, dem er stundenlang nachgespürt, und ein altes Mannli nahm ihn in Empfang.

Johannmarie sog den herbstlichen Duft mit dem Gottesfrieden wie einen köstlichen Trank in sich. Hunger, Durst und Müdigkeit, die verdrossene Miene, alles war wie weggeblasen. Hinter ihm lagen die Berge, die Hetze, Jagd- und Mordgedanken, als ob sie niemals dagewesen wären, vor ihm das Tal mit seiner Geborgenheit, dem schier heiligen Schweigen.

Er versuchte hinabzusteigen und fand an den glatten Wänden weder Halt noch Stand. Er begriff nicht, wie die Gemsen diese schauerlichen Flühe überwinden konnten. Irgendwo musste ein verborgener Pfad sich hinabschleifen. In mancherlei Krümmen, an deren Ende das Matterhom sich in den Himmel bohrte, glitt der Fluss in den Abendschatten.

Er erinnerte sich, oftmals von einem Wasser gehört zu haben, das rätselhaften Ursprungs, bei Zermatt aus den Felsen stürzte und in seinem Gischt rotbackige Äpfel, Birnen und Weintrauben wirbelte.

Wie berauscht hing er über den Grat hinaus und labte Auge und Herz an dem süssen Frieden der Landschaft, die langsam eindunkelte. Der Abschied fiel ihm schwer. Er lenkte die Schritte heimwärts. Keinem Menschen verriet er mit einer Silbe, was er gesehen hatte.

Am nächsten Tage besuchte er den Eremiten, der nach dem Volksglauben die Tiefen der Vergangenheit ergründete und die Welträtsel löste. Er schilderte ihm das heimische Tal, während der Einsiedel ein mächtiges Buch mit Lederkruste und Eisenbeschlägen auf den Schoss legte und darin blätterte.

«Da, da ist es», sagte er feierlich und hob den wallenden Bart.

«Mein lieber Freund, dich hat der Schutzengel geleitet und vor Schaden und Unheil gehütet! Du hast die Gemsen des Krämerlitales gejagt. Hättest du eine geschossen, so lägest du jetzt starr und steif auf der Totenbahre. Das Krämerlital hat der Herrgott erschaffen als Zuflucht für Menschen und Tiere, die vor der Habgier und Bosheit sich flüchten müssen und nirgends sonst Ruhe und Unterschlupf finden. Hänge die Büchse an den Nagel und entsage dem leidigen Waidwerk!»

Welcher Jäger, der in den Bergen geboren und in den Flühen sein halbes Leben verbracht hat, kann ihm entsagen? Noch im gleichen Herbst klomm er aufwärts, in den Felsen herum und suchte das Krämerlital. Kamen ihm Gemsen zu Gesicht, so griff er mechanisch nach der Flinte, die er zu Hause gelassen, das Jagdfieber stieg ihm in die Kehle empor und brandete zur verzehrenden Leidenschaft. Eines Tages riss er die Waffe herunter, nicht um zu morden, bewahre, nur um wieder ein ganzer Mensch zu sein. Frische Gemsspuren lockten ihn, spannten die Nerven. Wolkenlos strahlte der Himmel. Alprosen entfalteten ihre zweite Blust.

Blitzschnell kniet er nieder und knackt den Hahn. Ein Gemsbock sichert auf dem Grat. Der Schuss kracht, das Tier sinkt getroffen zur Erde. Im selben Augenblick wankt der Boden, die Wände klaffen und brechen nieder, es donnert und kracht, saust und braust in den Lüften, die Steinlawine erhascht seine fliehenden Füsse und begräbt ihn im Trümmermeer.

 

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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