Der Vogt auf der Wildenburg hatte eine Magd; sie war die Geliebte eines nahewohnenden Jünglings, durfte diesen aber nie besuchen. Der Vogt wollte das Mädchen nicht mehr aus der Burg weglassen. Endlich fand es Gelegenheit, den Geliebten zu sprechen und traf mit ihm eine Abrede, um aus dem Schlosse erlöst zu werden.
Am andern Tage war die Magd sehr freundlich mit ihrem Herrn; sie setzte sich ans Fenster auf einen Tisch, der Vogt senkte sein Haupt, damit sie ihm das Ungeziefer weglese. Aber drunten im Kuchitobel stand der Geliebte mit Pfeil und Bogen; denn das rote Tuch war laut Abrede vor dem Fenster. Er zielt, schiesst, und leblos stürzt der Vogt zu des Mädchens Füssen; er hatte den Pfeil im Kopf.
N. Senn, Tagebuch.
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Von Anfang an haben "wilde" Burgvögte hier regiert — daher der Name Wildenburg; doch die entsetzlichsten Barbaren waren die letzten. Eine Anzahl mutiger Jünglinge fasste den kühnen Entschluss, die Burg zu erstürmen und die schöne umliegende Gegend — Schönenboden — von den Tyrannen zu befreien. Allein die Burg wäre zu fest gewesen, wenn nicht der Himmel Hilfe gespendet hätte. In derselben Nacht nämlich, als die grosse Tat geschehen sollte, brach ein, furchtbares Gewitter los, und einer der ersten Blitzschläge entzündete die Wildenburg. Die tyrannischen Vögte mussten sich flüchten und fielen den Belagerern in die Hände. In einem Riet unterhalb der Burg wurde Lynchjustiz geübt und den Volksbedrückern der Garaus gemacht. An diesem Tage erhielt dieses Riet den Namen Blutlose.
Die schlimmen Herren aber kehrten als Gespenster in die Ruine zurück, um fortan die tief im Innern des Felsens aufgespeicherten reichen Gold- und Silberschätze zu hüten. Eines dieser Burggespenster soll sogar in einer Neumondnacht deutlich als einer jener ermordeten Burgvögte wieder erkannt worden sein. Tagsüber verhielten sich diese schaurigen Gestalten meistens ruhig, rumorten dagegen nachts um so ärger. Kein menschliches Wesen, das nicht mit dem kräftigsten Zaubermittel versehen ist - so heisst es — darf sich alsdann auf den Felsenstock begeben, es sei denn, es wolle mit den Wildenburgern verderben. Doch gibt es ein Zaubermittel, das, wie die Burggeister einst einem alten, ausgedienten Krieger offenbarten, aus einer weissen Ziegerkrautblume besteht. Es ist Aronieum scorpioϊdes, Koch. Wer diese findet, dem werden alle Schätze erschlossen. Und wirklich, der alte Soldat, der mit dieser Offenbarung beglückt wurde, entdeckte auf dem Käserruck die gesuchte Pflanze. Noch am selben Abend in der zwölften Stunde erkletterte er die Burgruine und bezwang deren Geister. Durch einen geheimen, engen Pfad führten sie ihn ins Innere, d. h. zunächst in die dunkeln Räume des ehemaligen Erdgeschosses. Dann ging es nochmals durch unheimliche unterirdische Gänge, bis den Glücklichen nur noch eine schwere, eiserne Türe von dem Schatze trennte. Dank seines Zaubermittels öffnete sich ihm auch diese sofort, und nun war der alte Krieger der reichste Mann der Welt.
Doch das Glück war von kurzer Dauer. Sobald er mit dem kostbarsten Golde die Schatzkammer verlassen wollte, wurde er gewahr, dass er sein Zaubermittel abgelegt hatte, das er fest in der Hand hätte halten sollen. Nun war die Blume im Besitz der Burggeister, denen auch der schnell reich gewordene Mann überliefert war. Vergeblich ertönten jede Nacht seine Hilferufe aus dem steinernen Labyrinth der Wildenburg, die oft als ein herzzerreissendes "Uftue", "Uftue", "Uftue" zu den Bewohnern der Umgegend drangen. Niemand besass die Macht, ihm Hilfe zu bringen; denn von der weissen Ziegerkrautblume ist kein zweites Exemplar mehr gefunden worden.
Dr. G. Baumgartner.
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Wollten die Herren jagen, so riefen sie durch ihre Hörner die Hirten vor ihre Burg. Bären, Wölfe und Gemsen mussten die Hirten springend und schwitzend in eine Waldecke zusammenheulen, damit die Jäger das Wild bequem schiessen konnten. So mussten die armen Menschen, ärger als die Hunde, den Herren auf der Wildenburg dienen. Doch meinten diese es noch christlicher mit ihnen als ihre Nachfolger.
Die Herren auf der Wildenburg starben aus, und auf ihren schönen Felsensitz kamen wilde Vögte, wahre Tyrannen. Die hätten auch gerne in Saus und Braus gelebt; weil ihnen aber die Mittel dazu fehlten, halfen sie sich durch Raub, der manchen Sennen in grosse Not brachte. Des Tages sandten sie ihre Knechte aus, die nahmen Ochsen, Kühe, Rinder, Butter und Käse. Wehrte sich einer mit fester Faust gegen solche Diebe, so fand er im finsteren Kerker einen grausamen Tod. Wussten sie irgendwo eine hübsche Sennentochter, die führten sie gewaltsam in die Burg.
Lange litten die Toggenburger alles Ungemach; als aber die Greueltaten sich immer mehr häuften, schwuren sie den Tyrannen den Untergang. In einer finstern Nacht, als diese wieder auf Raub auszogen, legte sich eine kräftige Schar in dem Burgwald auf die Lauer. Plötzlich brach sie aus dem Hinterhalt hervor und erschlug die Frevler nach blutigem Kampfe. Jung und alt bezeugte darüber seine Freude, Aber noch war die Tat nicht vollendet; einer war noch in der Burg zurückgeblieben; dieser suchte zu entfliehen. Eben wollte er sich durch einen Sprung durchs Fenster retten; da sah's ein geschickter Schütze. Die Bogensehne schwirrte, und der Pfeil traf das Herz des letzten Vogtes auf der Wildenburg.
Zur Vollendung des Werkes warf das Volk brennende Fackeln hinein, und bald verkündete die Glut am nächtlichen Himmel den letzten Tag des Raubnestes; prasselnd fiel es zusammen.
Alle Welt erzählt auch von den ungeheuren Schätzen, welche unterm Sand und Schutt der Wildenburg liegen und die von den hässlichsten zehn Kobolden und Gnomen gehütet werden. Das sind die Zwingherren, die zum Schrecken des Volkes auf der Wildenburg wohnten und die zu ewiger Strafe in den schrecklichsten Gestalten nun ihr gestohlenes Gut Tag und Nacht bewachen müssen.
Nach ihren Schätzen waren wohl schon manche lüstern; aber von den Eingebornen [Eingeborenen] hatte keiner das Herz, sich mit den Gnomen zu schlagen, die an der eisernen Pforte der grauenvollen Gewölbe Wache hielten.
Da geschah es, dass von den Laguneninseln des Adriatischen Meeres viele Menschen auswanderten. In Wildhaus, wohin sie auch kamen, kannte man sie unter dem Namen Venediger; sie wurden als Hexenmeister gefürchtet. Ein solcher hatte auch Lust, die hässlichen Geizhälse in der Burg zu bezwingen. Er suchte das einzige Mittel, womit man die Ungeheuer bannen konnte, die weisse Ziegerkrautblume auf, die jedoch äusserst selten ist. Nachdem er sie gefunden, machte er sich mutig auf den Weg zur Höhle.
Beim Wilbenburgersee stieg er in den unterirdischen Gang hinab, und nach wenig Minuten stand er an einer grossen, eisernen Tür, die sich ihm bei der Berührung mit der Zauberpflanze krachend öffnete. Schwarze Nacht, nur durchblitzt vom Blinken des Goldes! Furchtlos und ohne Rast raffte er nun von den zahllosen Goldklumpen, was sich tragen liess, zusammen und versprach sich schon zum voraus, recht bald wieder zu kommen, als ihn auf einmal ein unsichtbares Wesen umschwebte und ihm vernehmbar die Mahnung zuflüsterte.- "Lass s' Best nicht liegen! Lass s' Best nicht liegen!" Er erschrak, besah nochmals seine Beute und eilte von bannen. Erst als hinter ihm schmetternd die Türe zufiel, erinnerte er sich, dass er das Beste vergessen habe, die weiße Blume!
Es wurde keine zweite mehr gefunden.
I.C. Hartmann. (Durch Fritz Grob.)
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Im Schutt und Sand der Wildenburg liegen ungeheure Schätze, gehütet von zehn hässlichen Zwergen. Das sind die Zwingherren, die auf der Wildenburg viel Unrecht verübt und die darum ihr gestohlenes Gut Tag und Nacht bewachen müssen. Wenn dann die Geisterstunde schlägt und am Himmel kein Lichtlein glimmt, kriechen sie aus den Höhlen hervor, springen herum, leuchtend wie Irrwische, raufen sich die Haare, toben und heulen, dass es den Leuten in der Nachbarschaft durch Mark und Nein geht.
Zu gewissen Zeiten ändern diese Ungeheuer ihre Gestalt; das eine ist frisch und jung, das andere alt und kränklich, wieder eines schwarz und mit vielen Höckern behaftet. Manchmal erscheinen sie auch als Schweine, Hunde, als langgehörnte Bücke, die bei jedem Atemzug Höllendampf aushauchen. Wenn die Quatember oder andere heilige Zeiten nahe sind, spuken sie in der ganzen Gegend.
Hauptsächlich dem See entlang soll es gefährlich sein. Zuerst begegnet man einer Matrone, die, wenn sie jemand gewahr wird, eifrig die Hände reibt, klagt und winselt. Ist sie dem Wanderer nahe, so rümpft sie die Nase, und aus dieser wird ein langer Rüssel, mit dem sie nach Beute hascht; glücklich, wer ihr entrinnen kann!
Weiter vorwärts stösst man auf einen gewaltigen Mann, der einen grossen Hut und eine schwarze Kutte trägt. Zuletzt steht mitten in der Strasse ein Ungetüm mit Zigeunerbart und Räuberblick.
Alle diese Ungeheuer zusammen leben in ewigem Streit; haben sie einmal einen ruhigen Augenblick, so sitzen sie um ihre Kessel und zählen ihr Gold. Plötzlich werfen sie alles weg, sich selbst mit geballten Fäusten schlagend, und so quälen sie sich, bis endlich die ausgestandene Pein ihre verübten Grausamkeiten gesühnt haben wirb.
K. Kappeler.
Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 417, S. 241
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.