Das schneeweisse Steinchen
Es war einmal ein Hirtenbüblein, das musste alle Tage Geissen und Schafe hüten. Es konnte singen wie ein Vogel und jodeln, dass man’s weit und breit im Tal unten hören mochte. Einmal hatte das Büblein Durst, und es suchte auf der Weide herum nach Wasser. Endlich fand es unter einer hohen Tanne ein Weiherlein. Dort kniete es nieder und trank gierig.
Wie es so am Weiherlein kniete, sah es im Wasserspiegel, dass auf der Tanne oben ein Vogelnest liege. Das Büblein, nicht faul, kletterte wie ein Eichhörnchen hinauf, fand aber weder Staub und Flaug vom Nest und stieg unverrichteter Dinge wieder herab. Es schaute abermals ins Wasser und erkannte das Nest wieder im Baum oben. Es stieg zum zweitenmal in den Baum hinauf und fand wieder nichts. So zum dritten, vierten Male. Endlich kam der Bub auf den Einfall, er könne im Wasserspiegel die Äste zählen bis zum Nest hinauf. Das Ding war gut; er kam bis zu jenem Ast, griff herum und bekam das Nest in die Hände. Er langte hinein und fand ein schneeweisses Steinchen darin. Jetzt erst konnte er das Nest sehen.
Weil das Steinchen schön war, steckte er es in die Tasche und stieg vom Baum. Am Abend trieb er seine Geissen heim und sang und jodelte dazu nach Herzenslust. Aber wie er ins Dorf kam, hörte man den Buben wohl singen, aber sehen konnte ihn niemand. Die Leute fingen sich an zu fürchten, liefen davon und schrien: „Der Bub ist behext, oder es ist sein Geist!“
Der Vater hörte seines Kindes wohlbekannte Stimme, aber er sah auch nur die Geissen und den Buben nicht. „Um Himmels Gottes Willen, was hast du gemacht?“ rief er ihm zu, „komm herein in die Stube!“ Vater und Mutter wussten vor Schreck nicht, wo aus und an, und der Bub wusste nicht, dass er unsichtbar war, bis es ihm der Vater sagte. «“Bist du etwa auf einem Hexenplatz oder in einer Zauberhöhle gewesen?“ fragte der Vater mit bebender Stimme. Der Bub antwortete nein und erzählte vom Vogelnest. „Gib weidlich das Steinchen heraus!“ riefen Vater und Mutter. Der Bub gab das Steinchen dem Vater. Da riefen der Bub und die Mutter: „Herr Jesis, Vater, wo bist? Wir sehen dich nicht mehr!“ Der Bub war nämlich sichtbar, dafür der Vater unsichtbar geworden. Da wards dem Vater, als ob er eine Kröte in der Hand hätte, und er warf das Steinchen auf den Tisch. Da, was geschieht? Sie sehen den Tisch nicht mehr.
Der Vater auf, suchte den Tisch, fand das Steinchen, rannte hinaus und warf es in den Sodbrunnen hinunter. Aber da war es nicht anders, als ob Himmel und Erde zusammenstürzten; es krachte, blitzte und donnerte, wie beim schrecklichsten Gewitter.
Nicht lange hernach kam ein fahrender Schüler durchs Dorf. Der versprach dem, der ihm das schneeweisse Steinchen verschaffen könne, ein Tollenkessi voll Taler.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Oberland
Wörtlich aus Stutz, S. 74. Die in der Stutzschen Erzählung enthaltenen Bemerkungen der Erzählerin Rägeli und der Zuhörer wurden weggelassen und die aktive Erzählform im ganzen Stück durchgeführt. - „Tollenkessi“ = Waschkessel.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.