Die Silbergrube auf Schrina

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Die Kühe waren gemolken, das Abendessen eingenommen, der Rosenkranz nach damaliger Alpsitte beendet, als sich der Senn erhob, um vor dem Schlafengehen noch zu lauschen, wo sich die Herde gelagert haben möchte. Er musste mit dem Ergebnis zufrieden gewesen sein; denn er empfahl sich und sein liebes Vieh Gott und trat ganz bedächtig wieder zur Hüttentüre herein. Der Tag war heiss und schwül gewesen; nur die den Alpen eigentümliche erfrischende Nachtluft hatte etwas Kühlung in die Atmosphäre gebracht. Ein schwaches Wetterleuchten von den Grauen Hörnern herüber verkündete ein fernes Gewitter im Süden. Auch Zusenn, Küher und Baschi schickten sich an, die „Tril" zu betreten. Da klopft's plötzlich an die Hüttentüre.

„Wer ist noch draussen?" fragte etwas verwundert der Senn.

„Ein verspäteter Wanderer, der euch um Nachtherberge bittet," antwortete man zurück.

Sogleich wurde die Türe geöffnet, und herein tritt eine hohe, schlanke, blasse Männergestalt in ausländischer Tracht und mit fremdartig klingender Sprache. Er führte nichts mit sich als einen schwarzen, mit goldenem Knopf beschlagenen Stock und ein zusammengeschnürtes Jäckchen, das aber wertvolle Sachen zu enthalten schien. Der Fremde wurde freundlich, doch respektvoll willkommen geheissen. Ermüdet setzte er sich nieder. Bald war ihm ein einfaches Nachtessen vorgesetzt, welches der Fremde mit sichtlichem Appetit verzehrte. Nach und nach ward der ernste Mann redseliger und erzählte den mit grösster Aufmerksamkeit lauschenden Knechten von einem fernen Lande, wo ein ewiger Frühling herrscht, ein ewig blauer Himmel lacht, wo die schönsten, süssesten Früchte ohne Sorg und Arbeit gedeihen - von einer Stadt, weit draussen im Meere stehend, von deren unermesslichen Reichtümern, von stolzen Palästen, von tapfern Rittern und holdseligen Frauen. So entfloh die kurze Nacht gleich einem Zauber. Die Knechte glaubten fast, die geschilderten Herrlichkeiten gesehen und mit erlebt zu haben. Der frühe Morgen war angebrochen, die Hüttengeschäfte besorgt, das Morgenessen beendigt; der Küher schickte sich auf des Sennen Geheiss an, die Herde zur Tagweide in die Butz zu treiben.

Der Fremde fragte nach der Schuldigkeit; denn auch er wollte aufbrechen. „Ihr seid' nichts schuldig, guter Freund! Nehmt mit dem guten Willen und dem Wenigen vorlieb!" sagte abweisend der Senn. Da griff der Fremde in das Säckchen und gab dem Sennen eine Barre gediegenen Silbers. „Noch etwas, meine lieben Freunde, muss ich euch offenbaren," sagte er, als er die Schwelle der Hüttentüre betrat; „lasst heute ab von euerm Tagweidfahren nach der Butz. Haltet euer Vieh in Sicherheit dort im untersten Winkel der Alp, nach dem Käsgadenboden hin; denn heute wird in der Hinterbutz ein furchtbares Unwetter entstellen, dergleichen die Menschen noch keines erlebt haben."

Der Fremde stieg der Butz zu. Auf einmal war er den erstaunten Blicken der Knechte entschwunden, welch letztere sich auch vornahmen, seinen Warnungen pünktlich nachzukommen. In banger Erwartung kam der Nachmittag, Völlig wolkenlos war der Himmel; doch schwül war die Luft, heisser noch als gestern. Voll Unruhe suchte das Vieh den Schatten dunkler Tannen. Da bildete sich etwa um 2 Uhr über der Spitze des Frümsel ein ganz kleines, graues Wölkchen. Immer grösser und grösser ward es, zudem aber auch immer deutlicher die Gestalt eines furchtbaren Drachen annehmend.

Jetzt folgten Blitz auf Blitz, Donner auf Donner; ein furchtbarer Sturm tobte die Hinterbutz herunter; dumpfdröhnend rauschte der Hagel hernieder. Die ganze Alp schien nichts als Feuer, Hagel, Wolke und Gischt. Die Erde zitterte, der Berg krachte, als ob er sich spalten wollte. Vom nächtlichen Dunkel umhüllt, nur vom grellen Blitze erhellt, vor Entsetzen starr standen die Knechte beim Vieh, glaubten, der jüngste Tag sei angebrochen, und gaben sich samt der Herde verloren. In ihrer grössten Angst riefen sie ihren gewohnten Abendgruss: „Ave Maria!" Und sieh! Die Elemente legten sich. Freundlich schimmerte die Abendsonne bereits durch die Wolken, Die Gegend trat wieder an das Tageslicht. Der Wolkendrache, immer noch donnernd und feuerfprühend, zog am Himmel hoch über den blauen Walensee nach dem gegenüberstehenden Mürtschen, dort bis in die späte Nacht sein Unwesen treibend und die ganze lange Strecke mit Hagelschlossen überschüttend. Auf dem Drachen sahen die Knechte das Bild des Fremden, riesengross, ernst und traurig dareinblickend.

Welche Veränderung entdeckten sie aber in ihrer Nähe! Ein etwa zehn Minuten breiter Strich auf der östlichen Seite der Alp zeigte dem Auge die fürchterlichsten Verheerungen. Hoch oben vom Frümsel bis hinab auf Wiesen hatten sich zwei gähnende Bergklüfte geöffnet; unten, ausserhalb der Alp, war von den rasenden Bergbächen alles voll Schutt und Trümmer. Ausser diesem Reviere hatte die Gegend nichts zu leiden gehabt, im Gegenteil schien die Natur im grössten Frieden gelegen zu haben; auch kein Stück Vieh war den Hirten abhanden gekommen. Die Knechte hatten in dem Fremden einen Venediger erkannt, der mit Hilfe des Drachen im Kamm des Frümsel eine grosse Menge Silber gehoben hatte.

Noch heutzutage heisst jene Kluft und Runs, die am Fusse der Frümselspitze beginnend in die damals sich öffnenden zwei Grundbäche einmündet, die Silbergrube. 

J. Natsch


Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 361, S. 202ff

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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