Im Lötschental erhebt sich hart am Ufer der strudelnden Lonza ein turmhoher Felsobelisk, Längstein oder «Ankenchübel» (Butterfass) genannt, von dessen Entstehung die Talbewohner folgendes erzählen: Die Schutthalde, an deren Ende die Steinpyramide steht, war früher eine grosse, fruchtbare Alp, wo ein Berggeist mit wallendem Bart eine zahlreiche Gemsherde hütete, die ihm viel Milch gab. Die Gemsen wurden von den Jägem des Tales oft gejagt, was den Berggeist jedesmal in zornige Aufregung versetzte, denn die Tiere waren nach jeder solchen Hetze sehr erschöpft und lieferten gar keine oder rote Milch.
Unter den Jägern tat sich besonders der Meier des Tales, namens Waldis, hervor, der so reich war dass er seine Alpen und Matten von Lehensleuten liess und an nichts Interesse und Freude zeigte, als an der Gemsjagd. Den ganzen Sommer durch und oft noch im Winter, schlich er mit der Büchse den flinken Tieren und schoss die schönsten Böcke weg. Er rühmte sich am Ende des Jahres, so viele Gemsen geschossen zu haben, als es Tage im Jahr gibt, und oft stieg die Zahl noch darüber, so dass er in seinem Speicher keinen Platz mehr hatte für das dürre Fleisch.
Da erschien ihm einst, als er eben die sechste Gemse zur Strecke gebracht hatte, der Berggeist und rief ihn an; «Ich verlange, dass du das jagen einstellst, denn die Tiere gehören mir; ich verwalte die Gold- und Silberadern im Innern des Gebirges mit vielen anderen edlen Schätzen; ich erhalte das Metall in Flüssigkeit und hüte meine Gemslein, und wenn du noch einen einzigen Bock wegknallst, so wirst du es mit schwerer Strafe büssen!» Das lange schneeweisse Haar umflatterte das Gesicht des Greisen, aus dessen tiefen Runzeln zwei kleine, strenge Augen schauten. Die Rechte stützte er auf den Hirtenstock, und mit der Linken hielt er das flatternde, steingraue Gewand.
Der Meier schrak gar nicht sehr zusammen ob der Donnerstimme. Er fasste die Flinte fest am Laufe, lehnte den Oberkörper darüber und erwiderte mit lauter Stimme, die Talschaft hätte ihm das Meieramt übertragen, und die Bergreichtümer, sowie das Wild, das sich auf den Alpen und in dem Steingeklüfte herumtreibe gehöre ihm grad ebenso gut wie einem andern. So redeten sie hin und her, bis der Berggeist einen Vorschlag machte. Er sprach in tiefem Ernst und zupfte dabei die wallenden Strähnen des Bartes: «Ich sehe, dass du dich im Recht glaubst und nicht aus eitler Mordlust die Tiere hezest. Wenn du aber die Gemsen fürderhin in Ruhe lassen willst, so magst du dir dafür etwas wünschen!» Der Meier sagte, er verspreche es und wünschte sich ein' Butterfass voll der süssesten Butter und so gross, wie es die Welt noch nie gesehen. Dann grüsste er, schlug die Flinte über die die Achseln und schritt rasch bergab.
Als er am nächsten Morgen erwachte und des gestrigen Abenteuers gedachte, musste er lachen. «Nun, ich habe mir etwas gewünscht das, er nicht erfüllen kann, trotz seines Versprechens; einen Ankenkübel, so gross, wie man ihn noch nirgends gesehen hat, wo will er den hernehmen und mit Butter füllen! - Und wenn er sein Wort nicht hält, so bin ich auch nicht an meines gebunden, und dann werden die Gemsen vor mir keine Ruhe finden!»
Er nahm die Büchse und schritt zur Tür hinaus. Ei, wie er zurückprallte und die Augen weit aufsperrte! Da stand der Butterkübel schon da, so hoch wie der Turm der Talkirche, gefüllt bis zum Rand mit der besten Gemsbutter. Und der Geist hielt sein Versprechen. Jeden Morgen stand der Kübel frisch zugefüllt am gleichen Platze.
Meier Waldis liess sich das schöne Geschenk gefallen, hing die Büchse an den höchsten Nagel und verbrachte seine Tage mit beschaulichem Nichtstun. Aber wie die Zeit so langsam dahinfloss! Wenn der schöne, helle Sommertag anbrach, schaute er wohl sehnsüchtig hinauf zu den Felswänden, und ein tiefer Seufzer rang sich aus seiner Brust. Aber er sah den turmhohen Ankenkübel und gedachte der Worte des Berggeistes.
So strichen zwei Sommer dahin. Die Gemsen hatten sich inzwischen so stark vermehrt, dass sie bis in die Matten und Kornäcker hinunterstiegen, über die Mäuerchen und Zäune setzten und sogar in die Kohlgärten eindrangen und die besten Kräuter wegfrassen. Als der Meier die vielen Tiere sah, regte sich das alte Gelüste wieder. Er griff zur Flinte und schlug an, doch besann er sich noch auf sein Versprechen und setzte den Kolben wieder ab. Die Versuchung aber war zu gross. Zweimal noch nahm er die Büchse von der Achsel, dann schoss er.
Der Schuss krachte und widerhallte mehrfach in den Felswänden, aber o weh! Er löste ein furchtbares Ungewitter, Blitz und Donner folgten sich Schlag auf Schlag, und durch das Sturmgetöse tönte der Fluch des Berggeistes: «Weil du dein Wort nicht gehalten hast, so sollen deine Gärten und Matten zu abschüssigen Halden und Steinflächen, soll dein Ankenkübel zu Fels werden!» Als der Sturm sich gelegt hatte, war der Fluch in Erfüllung gegangen. So weit das Auge schaute, war alles eine Wüstenei, statt der Gärten und Matten Steinhalden, statt des Butterfasses ein schwarzer Felskopf.
In seinem grossen Verdruss stieg der Meier mit der Büchse in die Berge, kletterte durch die Felsen und schlich den Gemsen nach. Er näherte sich Meier Waldis Klamm, wie die Schlucht heute heisst, wo er einen weissen Bock beschlich und dabei zu Tode fiel. Sein Hut rollte auf die rote Lauine, und die Stelle wird heute Inhutine ge- nannt.
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.