Es war zur Winterszeit. Der Schnee lag meterhoch um die Hütten und hing sich im Walde an die untersten Äste. Ein Bürger von Jeizenen stieg mit dem Schlitten auf die Alp, um Holz zu holen. Auf dem Rückweg sauste das schwerbeladene Gefährt über die jähe Halde in vollem Lauf, dann hinein in den Wald, und nun vermochte es der Bauer nicht mehr zu bremsen. Der Schlitten flog zwischen den Stämmen durch und stürzte in einen tiefen, tiefen Spalt, der aber halb mit Schnee angefüllt war, so dass der Bauer keinen Schaden nahm. Als er sich vom ersten Schreck erholt hatte, verfiel er gleich in den zweiten, denn er sah, dass es über die glatten steilen Wände kein Entrinnen gab. Er stapfte der Klamm entlang, sah aber überall dieselben turmhohen Felsenmauern, über die hinauf die flinkste Gemse nicht gekommen wäre. Nach einer langen, mühevollen Schneewaterei kam er ans Ende der Schlucht, die in einen finstern Gang ausmündete. Dort gewahrte er einen glänzenden Schein, auf den er lossteuerte. Als er näher kam, erschrak er von neuem. An die Wand geschmiegt hauste ein hässlicher Drache, der seine glühenden Augen auf ihn richtete und mit der lang hervorgestreckten Zunge die Flüssigkeit, die von den Wänden niederträufelte, begierig aufleckte. Die spitzen Krallen der Füsse hackte er im Gestein fest, und mit der Schwanzspitze stützte er sich auf den Boden.
Der Bauer dachte, wenn ihn das Ungeheuer fressen wolle, so könne es ihn überall packen, bleibe er hier oder verstecke er sich irgendwo in der Schlucht, darum blieb er stehen und schaute eine Weile zu. Da das Untier keine Miene machte, ihn zu töten, und er Hunger und Durst verspürte, hielt er den Mund auch an die Wand und begann die gelblichrote, klebrige Flüssigkeit, die über das Gestein sickerte, abzulecken. Sie schmeckte süss, wie wilder Bienenhonig und sättigte ihn gut. Er setzte sich nach der Mahlzeit auf den Boden und schlief bald ein. Als er erwachte, war der Drache noch da und tat, als ob er ihn gar nicht bemerkte. In der Höhle war es warm, wie zu Hause in der Stube; er sammelte die dürren Gräser und Zweiglein, die überall herumlagen, und richtete sich ein Bett zurecht. Zum Frühstück leckte er an der Wand, dann ging er hinaus, um nochmals nach einem Aufstieg zu spähen, aber totmüde kehrte er zur Höhle zurück; das Suchen war umsonst, er musste hier bleiben, denn an ein Entweichen aus der Schlucht war nicht mehr zu denken. So hauste er nun Tage, Wochen und Monate mit dem Drachen in der Höhle, und er machte sich mit dem Gedanken vertraut, den Rest seines Lebens hier abbüssen zu müssen.
Da geschah eines Tages etwas, das ihn in massloses Erstaunen versetzte. Der Drache, der seine Höhle bisher nie verlassen hatte, immer zusammengekauert am Boden schlief, oder ausgestreckt wie ein Lindwurm an der Wand saugte, kroch langsam aus der Spalte, reckte und schüttelte die gezackten Flügel, dass es aufflammte wie ein Höhenfeuer, schlug ein paar Mal mit den Fängen auf und nieder und schwang sich in die Lüfte. Der Bauer sah dem Drachen nach, bis er verschwunden war und fühlte sich so trostlos verlassen, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Jetzt war er erst recht einsam in der finstern Schlucht; das einzige Lebewesen, und wenn es auch ein Ungeheuer war, hatte ihn verlassen, und er raufte sich die Haare und schlug mit den Fäusten an die Wand. Nun sah er erst ein, wie dumm er gewesen war. Er hätte sich an den Schwanz des Tieres anklammern sollen und auf den Rand der Schlucht hinauftragen lassen, dann wäre er gerettet gewesen. Jetzt war ihm jede Aussicht auf Rettung genommen. Er hoffte zwar immer noch, der Drache werde zurückkehren; den ganzen Abend und die ganze Nacht hindurch schaute er an den schmalen Streifen des Himmels hinauf, und sein Herz hüpfte jedesmal vor Freude, wenn er das Rauschen des Höhlengefährten zu hören glaubte.
Gegen Morgen verdunkelte sich die Spalte, der Drache schoss durch die Luft und schwebte sachte hernieder. Er rollte sich in der Höhle zusammen, schloss die Augen, und am nächsten Tag hing er wider an der Wand und leckte die Flüssigkeit. So verstrich wiederum eine lange, lange Zeit, und der Bauer wartete vergeblich auf den Augenblick, wo das Drachentier wieder auffliegen würde. Endlich kam der ersehnte Tag der Rettung. Der Drache kroch aus der Höhle, schüttelte die Fittiche, sperrte den Rachen auf, so dass kleine Wölklein hervorquollen und machte sich zum Fluge bereit. Diesmal wollte der Bauer die Gelegenheit nicht versäumen. Er setzte sich rittlings in einen der kreisrunden Schweifringel, wo er sich sicher fühlte wie in einem Sattel, klammerte sich an den Zacken des Schwanzrückens fest und flog mit dem Tiere auf. Ganz sachte schwebte es den Wänden entlang, flog höher und höher und setzte ihn im Walde ab. Der Bauer konnte sich kaum fassen vor Freude.
Im Sommerschmuck prangte der Wald, die Tannäste hatten lichthelle, frische Spitzen, zwischen den Stämmen wuchs würziges Waldkraut. Frohen Herzens machte er sich auf den Heimweg.
Die Seinigen schlugen die Hände über dem Kopfe zusammen, als er über die Schwelle trat und flohen ihn, denn sie glaubten, ein Waldgespenst vor sich zu sehen. Er aber grüsste freundlich, und nun erkannten sie den Totgeglaubten an der Stimme. Er erzählte seine Leidensgeschichte und befahl dem Sohn, mit dem Schlitten zu dem Rand der Schlucht zu fahren und die Drachenkegel zusammenzulesen, da es pures Gold sei. Schnell fuhr er mit den Händen in die Taschen, doch sie waren leer. Er hatte in der Höhle die Goldhäuflein zu kleinen Bergen geschichtet, um dann einige mitzunehmen, wenn der Tag der Rettung heranbrechen sollte, aber in der Aufregung hatte er es vergessen. Der Bauer wollte mit dem Sohne fahren, aber er wurde plötzlich unwohl. Er hatte Käse und Brot gegessen und ein Kännchen Wein dazu getrunken und fühlte sich sterbensübel. Er musste sich zu Bette legen und durfte nichts zu sich nehmen, denn der Magen wollte es nicht ertragen. Dort fühlte er auch einen schweren Druck, der nicht weichen wollte. Es hungerte ihn stets, und doch konnte er nichts essen, so dass er Hungers sterben musste. Als er nach seinem Tode aufgeschnitten wurde, wie er es vorher gewünscht hatte, fand man in seinem Magen einen Klumpen Gold von sieben Pfund Schwere. Sieben Jahre hatte der Bauer in der Höhle zugebracht, und sieben Pfund Gold waren in seinem Magen angehäuft.
Der Sohn brachte die gleissenden Kegel, die der Drache auf dem Höhlenrand hatte fallen lassen, auf dem Schlitten nach Hause, und von dem Edelmetalle, das ihn zum reichsten Manne weit und breit machte, schenkte er der Gemeinde so viel, dass sie hundertundzwanzig goldene Becher und zwölf goldene Kelche für die Kirche giessen konnte. Dann blieb immer noch ein schöner Rest, der zu Tötzli oder viereckigen Klümpchen geformt wurde.
Als 1799 die Franzosen das Dorf heimsuchten, musste die Gemeinde den ganzen Goldschatz herausgeben.
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.