Der Mondmilchgubel
Zu Vater Oberholzer in der Sonnenwies im Oberholz kam einmal bei eintretender Nacht ein Venedigermännchen und sagte, es habe in seinem Zauberbuch gelesen, dass es hinten an der Töss einen Felsen gebe, der mit einer eisernen Türe verschlossen sei. Hinter dieser Türe liege ein Schatz vergraben. Oberholzer schaute sich das Männchen eine Weile an und antwortete ihm, er kenne den Felsen wohl, das sei der Mondmilchgubel. Der Schatzgräber bat hierauf den Sonnenwiesler, er möge ihm den Weg dorthin zeigen, es solle nicht sein Schaden sein. Nachts um zwölf Uhr sollte er dort sein. Oberholzer bedachte sich nicht lange, denn er litt an Schätzen keinen Überfluss.
Auf den Schlag der Mitternachtsstunde standen die beiden vor der eisernen Türe. Der Venedig deutete dem Begleiter, er solle von jetzt an den Mund halten, was auch geschehen möge. Dann klopfte er dreimal an die Pforte, welche jetzt leise ächzend aufging. Eine wunderschöne, weissgekleidete Frau stand im Eingang. Sie winkte den beiden, ihr zu folgen. Bei einer schwarzen Eisentruhe hielten sie an. Auf dem Deckel hockte ein scheusslicher schwarzer Pudel. Den jagte die weisse Frau weg, und der Deckel sprang von selber auf. Und was sahen die beiden? Die ganze Truhe lag voller Goldstücke!
Mit grosser Eile füllte der Venediger seinen Sack, und kaum hatte er ihn vollgestopft, so schnappte der Deckel wieder zu. Auch der Hund setzte sich wieder darauf. Während dieser Zeit musste der Bauer immer nur die schöne Frau ansehen; ihr liebes Angesicht rührte ihn so, dass er kein Auge abwenden konnte. Aber als der Venediger seine Sache beisammen hatte, führte die Frau ihren mitternächtlichen Besuch wieder vor die Türe, und plötzlich standen sie im Freien. Die Türe schnappte zu, und der Sonnenwiesler konnte am leeren Daumen saugen.
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Oberland
A. Oberholzer im St.-G. T. 1905; Lienert, S. 46. Zur Etymologie des Wortes siehe Id. 4, 203, s. v. Manmilch: „Man-, Berg-, Mondmilch, die weissliche, schaumartige Masse in den Klüften der Kalkalpen. Die M. wird gegen Entzündungen beim Vieh angewendet und soll Gold enthalten. Die M. wurde dem Einfluss des Mondes zugeschrieben; naiverweise meinte man auch sie werde aus dem Monde gemolken.“ - Die M. sitzt als kreideähnliches Mineral an den Felswänden und wird abgeschabt als Heilmittel gegen alles Mögliche; sie dient auch als Farbe. Vgl. zu „Mondmilch“ auch den Aufsatz von Franz Siedler in SAVk 37 (1939/40), S. 218ff.
Unter Gabel versteht man im Oberland eine Felshöhle, wo unter Nagelfluhbänken die weicheren Schichten des Sandsteins und des Mergels durch Erosion ausgewaschen sind. Die meisten Gübel befinden sich unterhalb von Wasserfällen. Andere Beispiele: Weissengubel, Dachsgubel, Schmidwaldsgubel. Der Mondmilchgubel liegt am östlichen Abhang der Scheidegg, ist ca. 65 m tief und hat im Boden eine treppenartige Öffnung, vermutlich durch Schatzgräberei entstanden.Die Höhle glitzert von Tausenden von Wassertropfen wie von Edelsteinen. Vielleicht ist dies ein Grund zur Sagenbildung.
Die Geschichte wird auch noch anders erzählt: Als die beiden Männer die Höhle betreten hatten, bemerkten sie eine eiserne Kiste, auf der ein pechschwarzer Pudel sass. Das Tier sprang aber sofort weg, und der Venediger zog aus der Kiste Würmer, Eidechsen, Schnecken, Kröten und Schlangen, welche er in einen Sack steckte. Dem Sonnenwiesler grauste es so, dass er nicht imstande war, weder in die Kiste zu schauen, noch zu langen. Er musste mit leerem Sack abziehen. Gereut hat es ihn nachher doch, denn als der Fremde draussen seinen Sack umkehrte, waren die Tiere alle zu Gold geworden.
Siehe auch: "Der Mo-Milch-Gubel"
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.