Die Lochbachjungfer
Auf zähem Felsen stand vor vielen Jahrhunderten über dem Tösstale die Burg Hohen-Landenberg, im Volksmunde das Eichschloss genannt. Ein Ritterfräulein von Hohen-Landenberg sollte einst einen Ritter heiraten, zu dem es gar keine Zuneigung empfand. Sie suchte die Heirat so lange als möglich hinauszuschieben, weil sie dachte, der ungeliebte Mann würde sich eines Bessern besinnen oder im Kriege umkommen.
Der eigentliche Grund, warum sie von einer Verbindung mit dem fremden Ritter nichts wissen wollte, war, dass sie ein heimliches Verhältnis zu einem Jagdgehilfen des Landenbergers pflegte. Tief unter der Erde führte von der Burg aus ein unterirdischer Gang gegen das Lochbachtobel hin. In diesem Gang fanden sie sich jeweils zusammen und klagten über ihre unglückliche Liebe. Aber nach einiger Zeit wusste die Jungfrau, dass sie Mutter werden sollte. Der schwere Tag rückte näher und näher. Es war für das Mädchen gut, dass der rauhbauzige und gestrenge Ritter zu jener Zeit auf einer Kriegsfahrt war, sonst wäre es ihm übel ergangen. Eine alte Magd des Schlosses, der die Ritterstochter alles anvertraut hatte, half dem armen Geschöpf in den schweren Stunden, und das Kind kam auf die Welt, ohne dass auf der Burg jemand davon wusste.
Der heftigen Liebe der jungen Leute war ein gesundes Kind entsprungen, das die Welt mit kräftigem Geschrei begrüsste. Das Kindergeschrei erschreckte aber die Mutter dermassen, dass sie dem Schreihals schnell mit der Hand den Mund zudrückte. Angstvoll horchte sie, ob wohl niemand das Kind gehört hätte. Als sie ihre Hand endlich wieder vom Gesichte des Kleinen wegnahm, war dieses erstickt. Das doppelte Leid und die doppelte Sünde weckten eine ungeheure Angst in ihr, und diese Angst gab ihr die Kraft der Verzweiflung. Sie wickelte das Kind in einige Tücher ein und trug es in den unterirdischen Gang hinab.
Aber lange durfte dieses Bündel auch nicht dort bleiben, es hätte ja entdeckt werden können. Ein paar Tage später, als die Jungfer Landenberg wieder etwas bei Kräften war, stieg sie in die Höhle hinunter, um die Spuren ihrer Tat zu verwischen. Es stürmte und war ein grausames Unwetter, als sie das Windelbündelein aus dem Versteck an den Röisligiessen trug. Dieses ist ein turmhoher Wasserfall im Lochbachtobel. Dort warf sie ihr Kind vom Felsen hinunter in die Tiefe, wo es zerschellte und das Wasser mit seinem Blute rotfärbte.
Bestürzt darüber, dass die Untat nicht so leicht zu verheimlichen war, wollte die irregewordene Mutter in die Schlucht hinuntersteigen, um wenigstens die blutigen Windeln weisszuwaschen. Aber an dem steilen Bord rutschte sie aus und stürzte in die Tiefe, wo sie neben dem getöteten Kindlein zerschmetterten Hauptes liegen blieb.
So fand man sie beide unselig gestorben, und so wurden sie auch ohne den Segen der Kirche im Walde draussen verscharrt. Aber die Seele der Jungfer Landenberg fand im Grabe keine Ruhe. Zur Strafe für ihre Tat muss sie Tag für Tag, Sommer und Winter im Röisligiessen hinten die blutigen Windeln waschen. Und heute noch hört man etwa noch von älteren Leuten fragen, wenn man am Giessen vorbeikommt: „Ghöred er d Lochbachjumpfer flotsche?“
Quelle: K. W. Glaettli, Zürcher Sagen 1970, Oberland
Mündl. Überlieferung in der Gegend um Hohenlandenberg: Blitterswil, Undalen, Saland, Kohltobel. Stutz, S. 150
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.