Das Kräutlein der Weisheit

Land: Schweiz
Kategorie: Schwank

Nachdem sonst allen Gemeinden landauf und ab die Weisheit nicht mehr mangelte, waren es einzig noch die Senter (Sinser), welchen Dieselbe noch fehlte. Um nun nicht allein ohne diese edle Gabe sein zu müssen, und von ihren Nachbarn besonders wegen dieses grossen Mangels nicht immer gefoppt zu werden, beschlossen sie in der Gemeindsversammlung, den Gemeinderat selber (damit man sicher sei) nach Venedig zu schicken, um das Kräutlein der Weisheit zu kaufen, und nach Sent zu bringen. Um schwere Summe wurde dann in Venedig das Kräutlein erworben, und die löblichen Gemeinderats-Mitglieder, seelenfroh darüber, dass nun auch sie und ihre Gemeinds­genossen die Weisheit hätten, gaben ihrer Eile, mit dem teuer erkauften Kleinode heimzukehren, bedeutenden Nachdruck.

Schon überschritten sie mit ihrem Schatze die Landesgrenze, schon be­fanden sie balde sich auf heimatlichem Boden, schon wurden die lange Ersehnten von Alt und Jung freudig begrüsst, und festlich empfangen, und schliesslich lud auf freiem Platze vor dem Dorfe die wohlbesetzte Tafel sie ein, nach so langer Reise und Mühe und Entbehrung, gütlich sich zu tun. Ohne lange sich bitten zu lassen, setzten sich nun auch die Mitglieder des löbl. Gemeinderates zum Imbiss, nachdem das Kräutlein der Weisheit sorgsam auf ein besonderes Tischlein nebenan gelegt worden. Wie nun Alles so fröhlich und guter Dinge war, und der Weisheit Lob gepriesen ward, kam - ein Esel - daher - und - frass - das Kräutlein der Weisheit.

 

Ebenso verraten die Laviner angebornes Genie, d.h. Kunsttrieb. Das haben sie klar bewiesen, als von Gemeinde wegen beschlossen wurde, das Grasbü­scheli auf dem Dache ihres alternden Kirchturmes nicht umsonst wachsen zu lassen. Daher bauten sie mit vieler Kunstfertigkeit einen hölzernen Turm neben dem Steinernen, brachten einen Flaschenzug an Demselben an, und zogen vermittelst des Flaschenzuges eine Kuh am Halse in die Höhe, damit sie das Grasbüschele abweiden könne. - Die Kuh verstand auch den Wink vortrefflich, denn als sie kaum mit den Füssen den Boden verlassen, streckte sie schon die Zunge nach dem Grasbüschele empor.

 

Währendem die Vorstände vieler anderer Gemeinden grosse Mühe hatten, ihrer Ortschaft einen Namen zu geben, sind die von Guarda durch einen Zufall zu dem ihres Dorfes gekommen. Als praktische Kaufleute von jeher bekannt, fanden sie das Eisen, das sie für sich brauchten, wohl teuer im Ankaufe. Darum berechneten sie, dass sie billiger dazu gelangten, wenn sie Solches selber pflanzen und ziehen würden. - Also gingen sie hin, und pflügten von Gemeindewegen den besten Acker, und besäten ihn dickvoll mit Nähnadeln, damit sie Eisen­stangen ernten könnten. - O Wunder! - Die Nadeln schlugen Wurzeln, und keimten. Wie nun die junge Saat aufging, rief die ganze Gemeinde: »mo guarda« d.h. »schau doch, wie sie wachsen.« Ob nun die Ernte gut, und zur Zu­friedenheit der guten Leute ausgefallen, ist nicht bekannt geworden, - aber das haben sie dadurch profitiert, dass seitdem ihr Dorf Guarda genannt wird.

 

Doch nicht allein die von Guarda sind praktische Leute, sondern auch die Furner, denn als Die in ihrem hoch oben, abseitsliegenden Bergdörflein einmal zu Ohren bekamen, es gebe in der Welt auch ein Ding, das heisse Nadel, und mit diesem Dinge, so klein es auch sei, könne man ganze Kleider machen, fanden sie, dass es sehr gut wäre, wenn ihre Weiber eine solche Nadel hätten, das wäre so »kommlich« (bequem). Sie fragten eifrig nach, wo eine solche Nadel zu bekommen wäre, und erhielten von weither Bericht, die Nadeln seien alle verteilt, aber Nadel-Samen könne man noch haben. Der Gemeinde-Ammann nicht faul, machte in der Nacht noch sich auf und davon, wohin sagte er Niemandem. Sein Pflichteifer gebot ihm, als dem Träger aller Ämter in seiner Gemeinde, ein grosses Opfer, keine Mühe zu scheuen, den Nadel-Samen persönlich zu »ferggen« (holen, besorgen). Er musste weit ins Tyrol hinein, um das ersehnte Gesäme, und - kam richtig - ganz wohlbehalten mit dem Nadel-Samen in Furna wieder an. Das sei der Letzte, der noch aufzutreiben gewesen sei, sagte er. - Es war eben »gut Zeichen« im Kalender zum Säen, und ohne Säumen wurde ein Gemeinde-Acker gepflügt, und mit Nadelsamen besäet. - Die Saat keimte zum Verwundern, und eben wurde Sitzung im Rathause gehalten wegen gerechter Verteilung der vielen Nähnadeln, und man versprach sich grossen Gewinn und Ersparnis für Haus- und Gemeindswesen. Indess nun die Väter der Gemeinde ratschlagten, kam ein Esel, betrat den Acker und - weidete - die grüne Nadel-Saat »rübis und stübis« ab.

War nun das Übel geschehen, war leider kein anderer Nadelsamen mehr zu kaufen, nicht um schweres Geld, - und so wurde wieder Versamm­lung gehalten, was mit dem Esel, der das Unheil angestiftet, zu geschehen habe. Einige rieten für Verbrennen, Andere für Ertränken, für Erhängen, Vergiften, Erschlagen, Blenden, Lebendigvergraben, und andere Todesstra­fen. Da erhob der Ammann, der den ärgsten Zorn auf den Esel hatte, seine Stimme: »zersprengt muss er sein.«

Gesagt, getan! Der Übeltäter wurde auf den entweihten Acker ge­bracht, und dort eine Federspuhle ihm in den Hintern getan, damit Einer nach dem Andern so stark blasen solle, dass der Esel aufschwelle und zer­springe. Zuletzt kam auch der Ammann, und Der wollte auch blasen. - Dieweil er aber Ammann war, und als Solcher gescheiter als Alle Andern, sagte er: »Ich will nicht blasen, wo Ihr, und Ihr habet auch nicht recht ge­blasen,« - kehrte den Federkiel und blies auch. Es ist nun nicht bekannt, ob der Esel zersprang, und wie es kam, dass trotz dem erlittenen Schaden die Furner doch noch zu Nadeln gekommen sind.

Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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