Es war Winter, in raschem Fluge glitten eines Abends die Schlitten die Halde bei Waltensburg hinab, von kräftigen Knaben gelenkt; Mancher hatte sein Mädchen hinter sich auf dem Schlitten. Den Jüngsten und Letzten im Zuge wandelte plötzlich ein seltsames Gefühl an, er wendete sich um, - hinter ihm sass eine fremde Jungfrau von wunderbarer Schönheit. Er wagte es lange nicht, sie anzureden; endlich fasste er sich doch ein Herz und fragte die Fremde, wer sie sei, und von wannen sie komme. Sie sei das Burgfräulein drüben von der Jörgenburg, antwortete die Holde; seit vielen, vielen Jahren liege sie verzaubert dort, und nur der Jüngling könne sie erlösen, der bis zum Läuten der Morgenglocke ausharre in Kreisen, die sie ziehen werde. Mit diesen Worten verschwand sie.
Dem Knaben bangte es vor dem Wagestück, aber desto mehr sehnte er sich nach der holden Jungfrau, deren Flechten wie flüssiges Gold glänzten, schier wie das funkelnde Metall, das im Burgverliess begraben liegt. Um Mitternacht stand er vor der Ruine. Es erschien das Edelfräulein in schimmerndem Gewande, zog die magischen Kreise und verschwand. - Ross und Reiter, grauenhaft anzuschauen, huschten an ihm vorbei, schreckliche Gestalten zerrten an ihm, um ihn aus dem Kreise zu ziehen. - Der Knabe blieb fest. - Da schlug es an sein Ohr, wie ferner Glockenschlag, und vor seinen Augen flimmerte es, wie Morgendämmerung. Fröhlich sprang er aus den Kreisen, aber neben ihm stand wieder die Jungfrau, und weinte und jammerte, dass sie noch Jahrhunderte lang mit ihrem Golde verzaubert im düstern Turme liegen müsse. Sprachs und entschwebte dem Blicke des Jünglings. Der Klang der Glocke und der Schimmer der Morgendämmerung waren nur böser Zauber gewesen.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.