Ritter Jörg von Jörgenberg war ein tapferer Kriegsmann, zugleich aber auch der Schrecken der ganzen Gegend. Wenn er mit seinen Reisigen zu Tale fuhr, zitterte der Landmann und rettete sich in seine Hütte; selbst der einsame Wanderer mied des Ritters Nähe. Das Eroberte und von den Landbewohnern Erpresste wurde in der Burg in Saus und Braus verschwendet; daher war Jörg von Jörgenberg beim Volke gar verhasst, und die bedrängten Landleute taten sich feierlich zusammen, dem Übel zu steuern. Die Edlen der Gegend und die Bauern rüsteten sich zur Erstürmung der Burg, und auf ein gegebenes Alarmzeichen eilte Alles Derselben zu, sie einzunehmen und Rache zu üben an dem grausamen Ritter.
Die Edeldame, ganz das Gegenteil ihres Eheherren, die stets der Bedrängten Trost, die Hülfe der Kranken, die Retterin der Gefangenen aus dem dunkeln Verliesse gewesen, - sie suchte Gnade bei den Empörten, für sich, den Ritter und die Besatzung. Das ergrimmte Volk, eingedenk der Wohltaten, die die Dulderin vielfach ihnen gespendet, aber auch bewusst der erlittenen Missetaten von Seite des Ritters, gab ihrem Flehen folgendes Gehör: Sie, die Edelfrau, durfte frei abziehen, weil sie an den Gewalttätigkeiten des Burgherren keinen Anteil genommen hatte; auch ward ihr vergönnt, so viel ihrer Schätze mit sich zu nehmen, als ihr beliebte. - Trotz seiner Härte war nun der Ritter doch ihr liebstes Gut, und als Solches liess sie Denselben in einen Sack binden, welchen dann ihr Diener, der ihr folgte, trug.
Die Edelfrau erhielt versprochenermassen die Freiheit. Das Volk, das ihre List merkte, war so edelmütig, der Treue der Burgfrau ein Opfer zu bringen, und auch den Tyrannen unbekümmert weiter ziehen zu lassen. Jedoch musste dieser Letztere das Land auf immer verlassen.
Der Anführer der Belagerer sprach zum Volke: »Er ist entronnen! Unsere Hände bleiben frei von Racheblut; der Herr, der Richter ist im Himmel und auf Erden, der wird\'s vergelten.« - Die Burg wurde zerstört.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.