Ehemals, als noch das Schloss »Castellum« zu Castiel in Schanvigg stand, hauste in der Nähe desselben, im »tiefen Tobel«, ein fürchterlicher Lindwurm, der den Weg durch das Tobel verlegte und der nur dadurch zu begütigen war, dass jeden Monat aus den drei Gemeinden Castiel, Cavraisen oder Lüen ein Mensch als Opfer ihm gebracht wurde.
Zu dieser Zeit kam ein riesenfester Mann mit seiner einzigen Tochter aus der Fremde über die Berge her und liess sich in der Gemeinde Lüen nieder.
Nun kam auch wieder die Zeit, wo der Drache, wie gewohnt, sein Opfer forderte; das Loos traf die Gemeinde Lüen und gerade die Tochter des Fremden. Alle Rücksicht auf Selbsterhaltung verleugnend, beschloss er, zur Rettung seines Lieblings mit dem Drachen den Strauss zu wagen. - Am bestimmten, schicksalsschweren Tage führte er an der Linken seine Tochter, die Rechte hielt das Schwert.
Mit Beben sah das versammelte Volk der drei Dörfer einem schrecklichen Ausgange entgegen.
Unerschrockenen Herzens näherten der Fremde und seine Tochter sich dem Ungetüme. Dieses schwang seine Riesenflügel und stürmte mit weitgeöffnetem, feuerschnaubendem Rachen hinzu, sein Opfer zu verschlingen. - Der Mutige warf ihm eine »Allermannsharnisch- Wurzel« zu, stiess ihm schnell das Schwert in den von Schuppen nur schwach bewahrten Hals und erlegte so den Drachen.
Gleich nach der ruhmvollen Tat sank er auf das Knie und dankte, mit erhobenem Schwerte, der Vorsehung für die Rettung Aller von dem Ungetüme. Da fiel vom Schwerte ein Blutstropfen des Drachen herab auf sein Haupt und das schreckliche Gift desselben tötete ihn augenblicklich.
Das dankbare Volk ehrte sein Andenken in seiner Tochter. An der Stelle, wo der Kampf mit dem Lindwurme stattgefunden, steht jetzt die Kirche von Castiel.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.