Lang, lang ist es her, da herrschte grausame Kälte auf unserer Erde. Eine dicke Schneedecke lag auf dem Land. Alle Meere waren zugefroren. Es gab keine Sonne, und die Welt war in Dunkelheit gehüllt. Damals schliefen alle Tiere gemeinsam in einem grossen Jarange aus Walhaut. Gleich am Eingang brannte ein Feuer, in dessen Nähe der Fuchs schlief. Darum hat er noch heute ein braunes Fell. Endlich erwachte der Eisfuchs aus seinem Schlaf. Er rieb sich die Augen und rief: «Aufstehen! Hört einmal, mir hat geträumt, die Sonne sei zu uns gekommen. Sie will, dass es bei uns warm wird.» Da wachten augenblicklich alle Tiere auf.
«Und wann kommt die Sonne?», fragte das Ren.
«Das weiss ich nicht», sagte der Fuchs.
«Mir schien, der alte Eisbär hält sie im Himmel versteckt. Doch ich habe einen Plan. Wir müssen ein Loch in den Himmel machen und die Sonne befreien!»
Die Tiere berieten sich. Am Ende beschlossen sie, die Sonne auf die Erde zu holen. Aber sie konnten sich nicht einigen, wie das geschehen sollte. Da machte der Rabe Kurkyl einen klugen Vorschlag. «Hört, Brüder und Schwestern», sagte er. «Ich, der Rabe Kurkyl, werde ein Loch in den Himmel picken. Durch dieses Loch schlüpfen wir dann alle in den Himmel.»
Gesagt, getan.
Die Tiere machten sich auf und stiegen auf den höchsten Berg, der fast bis zum Himmel reichte. Der Rabe Kurkyl flog von hier zum Himmel und begann dort emsig ein Loch in den Himmel zu picken. Der Himmel war aber gefroren und so hart, dass der Rabe mit aller Kraft picken musste. Immer wieder wetzte er den Schnabel. Endlich war er fertig. Es war ein grosses Loch, das er gepickte hatte. Sogar der Wal kam hindurch. Als alle Tiere im Himmel waren, gingen sie die Sonne suchen. Es war nicht schwer, sie zu finden, denn sie strahlte gerade herrlich warm. Schon von Weitem sahen sie den Feuerball.
«Wie seid ihr in den Himmel gekommen?», fragte die Sonne.
«Ich habe mit meinem Schnabel ein Loch in den Himmel gepickt», sagte der Rabe Kurkyl. «Wir möchten, dass du auf unsere Erde scheinst und die Kälte und die Dunkelheit vertreibst.»
«Das wird nicht einfach sein», seufzte die Sonne. «Ich werde von einem alten Eisbären bewacht. Er ist gerade auf der Jagd. Wenn er aber zurückkommt und euch hier bei mir sieht, ist der Teufel los, das sage ich euch.»
«Nur keine Angst», lachte der Rabe. «Ehe der Eisbär kommt, sind wir schon auf und davon. Sollte er früher kommen, halte ich ihn auf. Und nun geht alle zu dem Himmelsloch! Ich warte hier auf ihn.»
Und die Tiere nahmen die Sonne in ihre Mitte und führten sie zu dem Loch. Es dauerte nicht lange, und der Eisbär kam. Er schleppte eine Beute mit. Als er den Raben erblickte, fragte er: «Was willst du hier?»
«Ich bin hierher geflogen, um dich zu warnen. Die Tiere wollen die Sonne stehlen.»
«Schnickschnack», brummte der Eisbär und kratzte sich mit der Tatze. «Wie wollen sie denn in den Himmel kommen, der ist doch gefroren und hart? Ausserdem würden sie die Sonne nicht finden. Nicht einmal ich kann im Augenblick sagen, wo sie steckt. Trotzdem ist es freundlich von dir, dass du mich gewarnt hast. Schau, was für eine gute Beute ich gemacht habe! Ein schöner Schafbock, nicht wahr? Wenn du schon einmal hier bist, dann halte mit! Ich lade dich zum Essen ein.»
Und die beiden machten sich heisshungrig über den Schafbock her. Als sie sich sattgegessen hatten, tranken sie Tee. Als sie mit dem Tee fertig waren, wurde der Eisbär plötzlich stutzig. «Wie bist du eigentlich in den Himmel gekommen?», fragte er.
«Ganz einfach», sagte der Rabe Kurkyl. «Ich habe ein Loch in den Himmel gepickt.»
«Ist das nicht gefährlich? Da könnten ja auch die Tiere in den Himmel hinein um die Sonne stehlen?»
«Schon möglich», lachte der Rabe, «doch ich habe dich ja gewarnt.»
Der dumme Eisbär erschrak und rief: «Schnell, führe mich zu dem Loch!»
Der Rabe Kurkyl führte den Eisbären zu dem Loch. Als sie ankamen, sahen sie gerade noch, wie die Sonne fröhlich auf die Erde sprang. Der Eisbär war überaus wütend, als die Sonne verschwunden war.
Kälte und Finsternis herrschten jetzt im Himmel. Der weisse Geselle wurde griesgrämig. Eines Tages beschloss er, zu der Sonne auf die Erde hinabzusteigen.
«Ich bin gekommen, um mir die Sonne zu holen», sagte er zu den Tieren.
«Wir geben sie dir nicht», sagte der Fuchs. Er zitterte vor Schreck.
«Ohne Sonne herrschten wieder Finsternis und Kälte auf der Erde.»
«Dafür ist es jetzt im Himmel dunkel und kalt», brummte der Eisbär.
Die Tiere berieten sich, wurden sich aber nicht einig. Da meldete sich der Rabe Kurkyl zu Wort. «Wir alle, Brüder und Schwestern, brauchen die Sonne, auch der Eisbär. Ich schlage vor, dass die Sonne den Sommer über bei uns bleibt. Die zweite Hälfte des Jahres soll sie im Himmel sein. Dann ist sowieso Winter, und viele Tiere halten den Winterschlaf. So ist es gerecht.»
Und so taten sie auch. Seit dieser Zeit dauert im fernen Osten der Tageinen ganzen Sommer und die Nacht einen ganzen Winter lang. Der Eisbär überlegte nicht lange und zog zu den anderen Tieren auf die Erde hinab. Im Winter, wenn die Sonne im Himmel war, hielt er seinen Winterschlaf. Da brauchte er die Sonne nicht. Im Sommer war die Sonne auf der Erde. Und da lief er ihr immer hinterher.
aus: Wintermärchen aus aller Welt, © Mutabor Verlag
Märchen in Schweizer Gebärdensprache
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