Die hundert Felder

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Jenseits des Langensees, gerade gegenüber von Ronco, bei einem anmutigen Bergdörflein, befinden sich die hundert Felder, so genannt, weil in dem Vertrag, der mit dem Teufel abgeschlossen wurde, es genau hundert sein mussten. Sie wurden zurechtgemacht in einer einzigen Nacht, und zwar vom Satan selbst in eigener Person. Ich will euch erzählen wie:

Es lebte einmal ein wackerer Mann, welcher Sigrist oder Kirchendiener seines Dörfleins war, einem Dörflein, das graziös und niedlich wie ein hübsches Mädchen sich im See spiegelte, so oft der Wind nicht etwa neidisch dessen Oberfläche trübte.

Dieser Mesner besass wie die andern Dorfbewohner eine kleine Wiese und ein Ställchen gerade dort, wo sich jetzt die hundert Felder befinden. Er war so schön, dieser Ort. Gross und geräumig dehnte er sich auf einer Fläche aus, die gerade so lang als breit war, an einer Stelle aber sanft anstieg. Leider aber war dieser Boden so überwuchert von Wald und dichtem Gestrüpp, dass weder Mensch noch Vieh ihn betreten konnten. Dafür bot er allen möglichen Tieren eine weitläufige Sicherheit und geheimnisvolle Unterkunft, wie Füchsen und Dachsen, Hasen, Haselmäusen, hübschen Eichhörnchen, trägen Schlangen und den grünschillernden Eidechsen, abgesehen von den zahlreichen Waldvögeln, die dort ihre Nester bauten und im Frühling zwitscherten, dass einem Hören und Sehen vergingen. Diese Tiere lebten in diesem Waldrevier wie in einer kleinen Republik oder einem Paradies.

Nun war aber jener Mesner ein Mann von weitem Blick, der sich bei ihm besonders entwickelt hatte, weil er so viele Zeit auf dem Glockenturm verbrachte. Er trug in seinem Herzen einen sehnlichen Wunsch, der freilich ausserordentlich und beinahe unausführbar schien. Er hätte so gern jenes ganze unfruchtbare Gelände in einen schönen und ergiebigen Ackerboden umgestaltet, um dort etwas Währschaftes ansäen zu können.

Wie oft war er auf einen Hügel gestiegen, von wo aus man die ganze Gegend überschauen konnte, und hatte bei sich selbst gesagt: «Welche Pracht, wenn man dieses weite Gebiet urbar machen könnte. Dann hätte unser Dorf Weizen genug, so dass man keine noch so arge Missernte befürchten müsste. Ja, man könnte sogar den Nachbardörfern noch abgeben, wodurch unsere Hilfsquellen vermehrt würden. Und so würden Wohlstand und ein bescheidener Überfluss bei uns einkehren.»

Und immer wieder machte sein Geist solch kühne Gedankenflüge. Freilich erhob ihn sein Amt als Glöckner ohnehin etwas über seine Landsleute. Dieser Beruf war nämlich nach seiner Ansicht nicht bloss ein Handwerk, sondern eine Kunst, eine Mission.

«Sicherlich», sprach er zu sich selbst, «bin ich es, der das ganze Volk im Dorf herbeiruft und versammelt. Ich taufe sie, ich verheirate sie, und ich beklage sie, wenn sie sterben, nachdem ich mich mit ihnen gefreut habe bei allen glücklichen Ereignissen ihres Lebens. Ich bin\\\'s, der sie zusammenruft bei drohender Gefahr. Ich erinnere sie mit dem Glockenzeichen daran, wenn\\\'s Zeit ist, sich nach gehabter Mühe wieder zu stärken. Ich wecke sie am Morgen aus ihrem Schlaf und lade sie am Abend nach langer mühseliger Arbeit wieder zur Ruhe. Gibt es ein Fest, dem lieben Gott, der heiligen Jungfrau oder einem wundertätigen Heiligen zu Ehren, so bin ich es, der sie mit dem lauten Klang meiner Glocken daran erinnert, und alle machen sich sonntäglich gekleidet auf den Weg, wohin ich sie rufe. Kurzum, ich bin doch sozusagen der Herr des Dorfes.»

Bei dieser Meinung seiner Überlegenheit war es wohl begreiflich, dass ihm noch andere Gedanken in den Kopf stiegen, unter denen der grösste, der hartnäckigste und schliesslich der einzige, der am wenigsten ausgeführt werden konnte, eben derjenige war, jenes weit ausgedehnte Gebiet des waldigen Berghangs in fruchtbares Land um-zuwandeln.

Nun sagt man ja seit alters her, dass der Teufel immer die schönsten Seelen anzulocken suche. Deshalb stiess er bei seinen häufigen Beutezügen eines Tages auf den Sakristan, gerade in dem Augenblick, da dieser ganz in seinen Lieblingsgedanken versunken war, wie man den Wald urbar machen könnte. Der Böse bewirkte, dass der Mesner sich gegen seinen Willen dazu hinreissen Hess, die Worte zu murmeln: «Ich würde meine Seele dem Teufel verschreiben, wenn dieser meinen  Traum,  meinen  einzigen  Wunsch  erfüllen könnte.»

Jetzt war der günstige Augenblick gekommen, wo Beelzebub sein Opfer fangen konnte. Er erschien plötzlich vor dem Sakristan und sprach: «Topp, ich nehme den Pakt an. Du verschreibst mir deine Seele und sollst als Entgelt dafür die hundert Felder fix und fertig zum Anpflanzen und Ansäen bekommen.»

Da könnt ihr euch vorstellen, wie verblüfft der arme Mesner bei dieser Erscheinung und bei diesen Worten war! Aber nun konnte man den Vertrag, wenngleich er ohne Stempelpapier und ohne Vermittlung eines erfahrenen Notars gemacht worden war, nicht mehr ändern; denn man weiss ja längst, dass sich mit dem Teufel nicht spassen lässt. Deshalb blieb nichts anderes übrig, als die Punkte genauer festzulegen, und die beiden kamen zu folgender Abmachung: Der Satan musste in einer einzigen Nacht das ganze Gebiet von Wald und Gestrüppe säubern. Dann musste er es pflügen und in hundert Felder einteilen, die durch besondere, tiefe Gräben voneinander abgetrennt waren. Diese Arbeit sollte getan werden zwischen den beiden Ave-Maria- oder Engelsläuten, die der Küster zur gewohnten Zeit zu läuten pflegte, nämlich das eine abends um sechs Uhr, das andere morgens um sechs Uhr. Nach dem letzten Schlag am Morgen musste der Sakristan sein irdisches Bündelchen packen und dem Beelzebub Folge leisten in den tiefen Abgrund der Hölle, wie so viele andere Sterbliche, deren unbändiger Ehrgeiz sie ins Verderben geführt.

Mittlerweile wurde es dunkel, und der Küster stieg beinahe im Sturmschritt die Strasse hinunter, die ihn zum Dorf und zu seiner Pflicht als Glöckner führte. Als er in die Kirche trat, bekreuzte er sich mit zitternder Hand, denn er kam sich bereits als verlorener Mann vor. Kalter Schweiss rann ihm von der Stirn herab und durchfurchte sie ihm ganz. Jetzt beugte er seine Knie vor dem Altar, verehrte zum letzten Mal seinen Herrn, trat in den Glockenturm, ergriff die Seile und läutete das Ave-Maria, aber diesmal so stürmisch, dass alle Bewohner des Dorfes zum Kirchturm emporschauten und einer den andern fragte: «Was hat wohl der Sakristan, dass er so kräftig läutet, wie wenn morgen Festtag wäre? Wahrscheinlich hat er ein Gläslein mehr getrunken als gewöhnlich.»

Jetzt machte sich der Teufel auf der Stelle an das harte Werk. Er koppelte zwei Höllenpferde zusammen und spannte sie vor seinen glühenden Pflug, der ihm jedes Gestrüpp, jeden noch so alten und gewaltig hohen Baum niederlegte und auf die Seite warf. Und als der Wald umgehauen war, wühlte er mit seinem Pflug die Erde auf und machte die Felder zum Anpflügen fertig. Auf diese Weise pflügte das Gespann vorwärts und zurück, unaufhörlich.

Die Rosse schnoben Feuer aus ihren Nüstern und dem Maul. Funken sprühten aus ihren Augen, Blitze aus ihren Füssen und aus dem Pflug. Sie fügten Furche an Furche, Felder an Felder und zerstörten so den alten Freistaat, das Paradies der Tiere, das seit Jahrhunderten, beinahe seit einer Ewigkeit auf jenem Berghang bestanden hatte, so dass die Waldtiere erschreckt von dannen flohen.

Und der Küster, was machte der unterdessen? Er hatte sich auf dem Glockengebälk des Kirchturms niedergekauert und verbrachte dort seine letzte Nacht als Sakristan. Er schaute zu, wie der höllische Pflug nach jeder gezogenen Furche umkehrte, was er von seiner Höhe aus ganz genau zählen konnte, denn wenn eine Furche fertig war, konnte er selber wohl beobachten, wie der Teufel mit seinen Pferden und dem Pflug umkehrte, um eine weitere Furche zu beginnen.

Der Ärmste sagte mittlerweile zu sich selbst: «Jetzt fehlen nur noch fünfzig, jetzt noch neunundvierzig . . . Wer weiss, ob er damit fertig wird, bevor ich zur Frühmesse das Ave-Maria läute.» Es war seine einzige Hoffnung, dass jener nicht fertig werde. Aber freilich, der Teufel verspürte weder Müdigkeit noch Angst. Der Pakt war regelrecht gemacht, und morgen wollte er den Mesner auf die Schultern nehmen und mit ihm zur Hölle, diesmal mit einer prachtvollen Beute, man denke sich, einen Kirchendiener, einen Sakristan!

Jetzt sind es schon neunzig .. . jetzt einundneunzig . .. jetzt fünfundneunzig Faider. Nun fehlen bloss noch fünf. «Jesus und Maria, kommt mir zu Hilfe!» rief der Glöckner von Zeit zu Zeit mit erstickter Stimme. Noch vier, noch drei, noch zwei, noch ein Feld fehlt. Bim, bam; bim, bam; bim, bam, läuteten jetzt die Glocken, so stark sie nur konnten. Kaum hatte nämlich der Glöckner gemerkt, dass nur noch ein einziges fehlte, so erwachte er wie aus einem Traum, erinnerte sich, dass er ja im Kirchturm, im Glockenturm oben war, dass er ja die Glocken ganz nahe hatte und es keine grosse Sünde sei, dem Satan das Wort nicht ganz zu halten. So packte er denn das Seil der nächsten Glocke, das ihm gerade in die Hände kam, und wie von einem guten Geist geleitet, fing er an zu läuten, so stark er nur konnte, halb aus Verzweiflung zunächst und aus Hoffnung nachher. Das war ein Ave-Maria der Erlösung, der Befreiung, mit so viel Feuereifer geläutet, dass der ganze Kirchturm mitsamt der Kirche erzitterte.

 

Auf das hin musste der Teufel seine Arbeit sofort unterbrechen. Er war überlistet worden gerade in dem Augenblick, da er sein Ziel schon fast erreicht zu haben glaubte und den Lohn für seine teuflische Arbeit empfangen durfte. In jener Furche, die an den Rand eines Tälchens grenzte, versank er geradewegs bis in die Hölle und Hess einen schwarzen Abgrund hinter sich, aus dem lange Feuerzungen emporloderten und ein solcher Gestank von Schwefel und verbranntem Pech heraufstieg, dass viele Jahre später sich keift Mensch mehr an jenen unheilvollen Ort getraute.

Die hundert Felder sind noch zu sehen, und noch erzählt man dort diese Sage, wie sie mir von alten Leuten des Dorfes berichtet wurde.

Der Sakristan hatte seine Seele gerettet und war dem Teufel entronnen. Aber zur Strafe für seinen Ehrgeiz wurde sein Name vergessen.

 

Am Kaminfeuer der Tessiner                                   

Walter Keller                                                         

Hans Feuz Verlag Bern

 

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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