Es ist einmal ein junger stolzer Ritter gewesen. Ueli hat er geheißen. Der konnte so schön singen, daß er aller Sinn bezauberte, die seinem Gesang lauschten, und sich ihre Herzen zu willen machte. Aber insgeheim war er ein schlimmer Räuber und gar böser Mörder: arglistig stahl er die schönsten Mädchen und frommsten Jungfrauen im Lande. Er lockte sie mit seinen lieblichen Liedern von Hause fort und versprach ihnen, er führe sie auf sein hohes Schloß, und herrlich werde allda Hochzeit gehalten. Aber auf dem Wege schon, wenn er sie an einen einsamen Ort gebracht hatte, viele Stunden weit weg von allen Menschen, nahm er ihnen alle Kleider und Kostbarkeiten weg, die sie ihm zuliebe auf dem Leibe trugen, und ermordete sie gar schändlich. Also hatte er schon elf reiche, schöne Töchter im Lande entführt, und niemand wußte, was aus ihnen geworden war.
Eines Tages ritt er auf seinem grauen Roß wieder auf Raub aus und trabte durch ein weites Ried; dazu sang er aus voller Brust und Lust ein schallendes Tagelied. So hell sang er und so schön mit dreierlei Stimme, daß es laut an den Bergen widerklang. Unweit stand eine Mühle am Bach, da wohnte ein reicher Müller. Der hatte zwei Kinder im Hause, einen Sohn, einen wackeren Jungknaben von gutem Mut und Blut, der Ruedi hieß und ein tüchtiger Jäger war, und eine Tochter, ein hübsches, frisches Mädchen mit blauen Augen und hellen Zöpfen. Schön Anneli stand just in der Stube und räumte in Mutters Kisten und Kasten, da drang der helle Schall von Ritter Uelis Gesang zum Fenster herein, und g'wundrig, wie so Maitli sind, legte es sich unter den Laden und lugte hinaus, wer in aller Welt so schön singen möge, und sah im selben den stattlichen Ritter auf den Hof zureiten. Gleitig sprang es die Stiege hinab und trat unter die Tür, um besser zu losen und zu lugen und sagte vor sich hin:
"Oh chönnt i au eso singe,
Wött mit em vo heime springe!"
und dachte bei sich: »und schöne Kleider und guter Schmuck liegen mir auch im Schrein und wären jeder Edelfrau recht.« Der Ritter grüßte artig und sprach aufs Mal, als wüßt' er ihre Gedanken: »Wenn du mit mir kommen willst, heim auf mein Schloß, dann will ich dich lehren alles, was ich kann«, und freundlich lachte er das Mädchen an:
E Liedli uf dreierlei Stimme
Wott ich dich lehre go singe!
Nun geh hinauf, leg deine schönsten Kleider an, und bald reiten wir durch Wies und Wald auf meines Vaters Schloß.« Anneli wußte nicht, wie ihm geschah; geschwind sprang es die Stiege hinauf, ging in sein Kämmerlein, band seine gelben Zöpfe mit feinen Seidenfäden auf, nahm seine Festgewänder aus der Truhe und kleidete sich prächtig in Samt und Seide und schmückte sich mit Silber und rotem Gold, wie eine Braut zum Altargang, und ging gleich in den Hof hinab, wo Ueli auf sie wartete. Er bestieg sein Roß, hing seinen vielfarbigen Schild zur Seite, nahm Anneli am Gürtelschloß und schwang sie hinter sich auf den Sattelsitz und - staubvomboden sprengte er mit ihr dem nahen Walde zu, so schnell, daß ihr das Haar im Winde flog; bald ritten sie tief im finstern Tann.
Aber als sie nach einer Weile an einer grünen Haselstaude vorüber kamen, saß da auf dem höchsten Zweig ein weißes Turreltäublein, das ruggte und gurrte und gurrte und ruggte mit seinem rosenroten Schnäbelein:
"Ruggedigugg - Ruggedigugg!
Amene Brunne
Vo Bluet umrunne
Hoch imene Baum –
Es isch kein Traum! –
Elf Jüngferli hange.
Jez isch die zwölfti gfange!
Ruggedigugg - Ruggedigugg."
„Hörst du nicht, Ritter, was hat wohl das weiße Täublein dort auf dem grünen Haselstrauch gesagt?“ fragte erschrocken das Mädchen. „Es ruggt wegen seinem roten Fuß, daran es im Winter im tiefen Schnee so bitter frieren muß«, erwiderte jener und spornte sein Roß noch tiefer in den Wald hinein, und fort jagten sie im jähen Lauf über Stock und Stein und durch stachlige Stauden. An den Dornen zerschlissen Annelis schöne Kleider zu Hudeln und Fetzen, und es ritzte sich seine zarte Haut bis aufs Blut, so daß es jämmerlich schrie:
"O weh, was G'walt!
O heie o he, myni sydige Röck!
O heie o he, myni schneewysse Bei!"
Doch der Ritter kehrte sich nicht daran und trieb sein Roß nur noch härter an. Erst als sie im dunkelsten Waldesgrunde waren, ließ er es langsamer gehen, und an einem Quellbrunnen, dessen Wasser dunkel waren wie von Blut, hielt er unter einer alten Tanne an. Er sprang ab und spreitete seinen scharlachroten Mantel ins grüne Gras. Dann hob er Anneli aus dem Sattel und hieß sie zu ihm sitzen, legte ihr sein Haupt in den Schoß und sprach:
„Ach Anneli, chumm mer cho luse,
Mys chruselgäls Hörli verzuse!“
Schön Anneli tat nach seinem Wort, aber wie sie ihm mit den Fingern durchs Haar fuhr, da schaute sie wie von ungefähr in den Baum hinauf, unter dem sie saßen. Und - das Herzblut wollte ihr vor Schrecken gerinnen - dort erblickte sie elf nackte Jungfrauen an den Ästen hängen, eine schöner als die andere, eine bleicher wie die andere. Jetzt erst verstand sie, was das weiße Täublein auf dem grünen Haselbusch ihr hatte sagen wollen. »Weh mir«, sprach Anneli zu sich selber, „ich bin so fern in einem tiefen Tal, daß niemand mein Rufen hören mag, und niemand wird mir zur Hilfe kommen. Nun muß ich Leib und Leben lassen, so jung ich bin.“ Und sie bebte am ganzen Leib wie Espenlaub, und so manche Locke sie dem Ritter vertat, so manche Träne rann ihr über die Wangen. Der merkte wohl, wie's ihr zu Mut war; er schaute auf und lugte ihr unter die Augen: »Ei«, sprach er, »was dauert dein Herz so sehr, daß du greinen mußt? Weinst du ob deinem stolzen Mut? Weinst du um deines Vaters Hab und Gut? Weinst du um deine Ehre, daß sie dir verloren sei? Oder weinst du etwa um eine hohe Tanne und meinst, du müßtest dran hangen?“ - "Ich weine nicht um mein junges Blut, ich weine nicht um meines Vaters Hab und Gut! Ich weine nicht um meine Ehre, daß sie mir verloren sei. Ich weine ob dieser Tanne; ich sehe elf Jungfrauen dran hangen!“ Da lachte der Ritter gell auf und rief: »Ei, weine nicht so sehr, schön Anneli, es hilft dir nichts! Ja, es ist wahr, du wirst die zwölfte sein, und zu oberst oben am höchsten Dolder mußt du hangen! So können alle Leute sehen, daß du die Kaiserin über allen bist!" Arm Anneli wand ihre Hände und raufte sich das Haar in Todesangst und bat und flehte: „Um eine Gnade nur bitte ich dich: dreimal noch laß mich um Hilfe schreien!“ „Schrei du nur zu, hundert Stund, soviel du magst“, sprach der Ritter spottend und schnitt indes mit seinem scharfen Schwerte junge Ruten im Gestrüpp, um eine Wied daraus zu drehen, »kein Mensch wird deinen Ruf vernehmen, und die jungen Waldvögelein hören nicht auf dich, und die Tauben, die sind verschwiegen!" Da tat Anneli den ersten Schrei in den Wald hinaus und rief ihrem Vater:
"Chumm Aetti, chumm und hilf mer bald,
Mues Lyb und Läbe la im Wald!"
Aber der Vater vernahm sie nicht, nur die Blätter der Bäume rauschten im Winde. Und Anneli tat den zweiten Schrei und rief der Mutter:
„Chumrn Müeti, chumm und hilf mer bald,
Mues Lyb und Läbe la im Wald!“
Aber auch die Mutter vernahm sie nicht, und wieder rauschte nur das Laub im Winde. Und nun tat Anneli den dritten Schrei und hat seinem Bruder gerufen:
"Chumm Brüederli, chumm und hilf mer bald,
Mues Lyb und Labe la im Wald!«
Aber Ruedi war nicht daheim, er saß beim Sternenwirt und aß eben Hochzeitsbraten und gebackene Fische und trank einen Krug kühlen roten Weins dazu. Doch Annelis Ruf drang zum offenen Fenster herein, und deutlich hörte er den wohlbekannten Laut; er horchte auf und rief den lärmenden Gästen zu:
„I bitt ech um Gotts Wille,
Händ ech chlei weneli stille! –
Es lit mir öppis in mynem Sinn,
I mein, i g'höre mys Schwöschterlis Stimm!
Hör regne Wind, hör stürme Wind!
I g'höre-n-es Stirnmli, wie eusis Chind,
I g'höre mys Schwöschterlis Stimm!“
Da sprang er auf vom Tisch und rief dem Knecht auf dem Hofe zu:
"Sattle mir mein bestes Roß im Stall! Zäum's mit einer eisernen Kette!“ Denn so buggeil war sein Roß, daß es alle Stricke und Stränge zerbiß. Er schwang sich auf und staubvornboden sprengte er über Berg und Tal, um seines Schwesterleins Leben zu retten. Und so hart spornte er sein Roß, daß ihm Leber und Lunge im Bug kochten und unter den Hufen Funken sprühten und die Baumwipfel wetterleuchteten. Und als er im Walde an der grünen Haselstaude vorbeikam, saß auf dem höchsten Zweig das weiße Turteltäubchen und ruggte und gurrte und gurrte und ruggte mit seinem rosenroten Schnäbelein:
"Ruggedigugg – Ruggedigugg!
Ryt gschwind, ryt gschwind,
Wie Wetter und Wind!"
Und Ruedi stachelte sein Roß noch mehr, so daß ihm die Hufe unter den Eisen Blut schwitzten, und bald kam er zur Tanne am blutigen Brunnen, grad, wie der Räuber die Wied fertig gedreht hatte und dem armen Anneli um den weißen Hals legen wollte. »He«, rief er ihm zu, »dreh zu, nur zu, dreh fest und gut! Du drehst die Wied für deinen Hals!« Und schon war er vom Roß gesprungen und warf mit starkem Arm den Mörder zu Boden und band ihn mit der Wied, die er selber geflochten, seinem Roß an den Schwanz. Dann hing er sich Uelis vielfarbigen Schild an die Seite, schwang sein Schwesterlein hinter sich auf den Sattelsitz, und sie sprengten selbander heimwärts. Ritter Ueli aber ward hinterdrein geschleppt über Stock und Stein und durch stachlige Stauden und, wie erbärmlich er schrie, an Steinen und Dornen blutig geschleift und geschunden. Aber als sie bei dem grünen Haselbusch vorüber kamen, saß auf dem höchsten Zweig das weiße Turteltäubchen, das ruggte und gurrte und gurrte und ruggte mit seinem rosenroten Schnäbelein:
"Ruggedigugg - Ruggedigugg!
Du Rüter, du Schölm, du Räuber, du Dieb,
Lueg, wie mer dir's Luse-rr-und 's Chrusle vertrybt!
Du muesch jetz hange-n-em Roß am Schwanz,
Du muesch jetz lehre de Höppelidanz!"
g'wundrig = neugierig; gleitig = eilig, schnell, losen ~ hören; lugen = sehen; buggeil = ungebärdig; Wied = Strick
Quelle: Curt Englert-Faye, Schweizer Märchenbuch, S. 152
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.