Die Tanzwiese

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Ein junger Mann liebte ein Mädchen von wunderbarer Schönheit. Das wohnte in einem benachbarten Dorf des Capriasca-Tales und lebte allein. Beide waren sich von Herzen zugetan. Eines Abends sagte das Mädchen zum Jüngling: «Morgen Abend, Freitag, brauchst du mich nicht zu besuchen. Ich werde nicht zu Hause sein, weil ich zu einer Tante gehen muss, die krank geworden ist.» Der junge Mann gehorchte. Aber als sie am folgenden Freitag ihm wieder verbot, zu kommen, schöpfte er Verdacht, wurde eifersüchtig und wollte über die Sache ins klare kommen. Er begab sich also gleichwohl zu seiner Geliebten, guckte heimlich durch das Küchenfenster und sah Dinge, die ihn in großes Erstaunen setzten. Das Mädchen saß am Herd und kämmte sich mit aller Sorgfalt ihre blonden, prächtigen Haare. Dann verschwand es und kehrte bald darauf wieder zurück mit ihren schönsten Kleidern angetan. Hierauf nahm sie vom Schrank über dem Tisch ein kleines, rotes Schächtelchen, das eine grüne Salbe enthielt, mit welcher sie sich die Stirne, die Hände und die Füße einrieb. Darauf legte sie das Schächtelchen auf den Herd und verschwand durch den schwarzen Rauchfang des Kamins.

Jetzt drückte der Jüngling mit Gewalt die Türe ein, trat in die Küche, nahm die geheimnisvolle Schachtel und salbte sich mit der grünen Salbe ebenfalls Stirne, Hände und Fülle. Da plötzlich fühlte er sich, wie von zauberhafter Macht, durch den Rauchfang emporgehoben und wurde zum Schornstein hinaus davongetragen. Und weit fort ging es. Schließlich gelangte er zu einer großen ebenen Waldwiese, die von unzähligen Lampen erhellt wurde. Dort tanzten viele schöne Mädchen und Jünglinge, fein gekleidet, ganz närrisch und wie außer sich zum Klang einer lieblichen Musik.

Mitten auf der Wiese saß ein Herr in eleganter schwarzer Kleidung, mit Zylinder und ebenfalls schwarzen Handschuhen, mit Füßen wie die eines Pferdes und mit zwei Hörnchen auf der Stirn; ein Mann, dessen Blick einen bannte und bezauberte. Er lächelte und lächelte unaufhörlich. Es war gewiss der Teufel.

Der Jüngling tanzte mit verschiedenen Mädchen und auch mit seiner Geliebten, die sehr verwundert war, ihn an diesem Ort zu treffen. So tanzten sie bis zum Morgen.

Da hörte man vom Kirchturm des nahen Dorfes das Ave Maria des anbrechenden Tages läuten. Mit einem Schlag hörten Musik und Tanz auf, und alles verschwand in der grössten Finsternis. Als es dann später Tag wurde, befand sich der Jüngling auf einer Waldwiese rings von Dornbüschen umgeben. Nur mit großer Anstrengung konnte er sich durch die Dornen einen Ausweg bahnen und kehrte zerkratzt und übel zugerichtet nach Hause.

Von diesem Tag an wollte er von seiner Schönen, die mit Geistern verkehrte, nichts mehr wissen und kehrte nie mehr zu ihr zurück.

 

Quelle: Walter Keller, Tessiner Sagen und Volksmärchen, Märchen erzählt in Campestro von Silvio Savi, 1928

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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