Vor vielen, vielen Jahren, so erzählte mir ein altes Mütterchen, das wohl nie Geschichte studiret hat, belagerten die Oestreicher die Stadt Solothurn, weil die Bürger nicht Untertanen des Herzogs Leopold sein wollten. Die Stadt war ganz von Zelten umgeben, aber die mutigen Bürger wehrten sich unerschrocken, vertrauend auf ihr gutes Recht und die Fürbitte ihrer Stadtpatronen St. Urs und Victor; schon war die Stadt drei Wochen belagert, und noch hatten die Oestreicher die Stadt nicht bezwungen, obschon grosse Hungersnot in ihren Mauern herrschte. Da reisst plötzlich die durch anhaltendes Regenwetter angeschwollene Aare eine Brücke weg, die der Herzog bei Treibeinkreuz über sie hatte schlagen lassen, um seine beiden Lager diesseits und jenseits der Aare zu verbinden; alle aufgestellten Truppen, die dies hätten hindern sollen, stürzen ins Wasser, werden von den Solothurnern gerettet und dem Herzog ins Lager zurückgeschickt. Aber nicht dies vorzüglich bewog den Herzog die Belagerung aufzuheben; er hatte unter seinen Hofleuten einen gar tugendhaften, gottesfürchtigen Schreiber, der sieht einmal, als er nachts die Runde machte, die Mauern Solothurns von hehren Kriegsgestalten besetzt, wie noch nie sein Auge gesehen, die auf der Brust glänzendweisse, hellstrahlende Kreuze tragen. Er erzählt dies dem Herzog, rät ihm die Belagerung aufzuheben, weil dies niemand anders als die hl. Märtyrer St. Urs und Viktor seien; aber der glaubt, der Feind habe seinen Schreiber bestochen und lässt ihn ins Gefängnis werfen. Sobald er sich aber selbst von der Wahrheit der Aussage überzeugt, hebt er die Belagerung auf, und schenkt St. Urs sein Banner, das noch jetzt in der St Ursenkirche aufbewahrt und jährlich am St Ursentag feierlich ausgehängt wird.
Aus: R. M. Kully, H. Rindlisbacher, Die älteste Solothurner Sagensammlung, in: Jurablätter. Monatsschrift für Heimat- und Volkskunde, 1987. Mit freundlicher Genehmigung von R.M.Kully. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch