Sampo und der Bergkönig*

Land: Lappland
Kategorie: Zaubermärchen

Im hohen Norden in Lappland leben Menschen, die mit ihren Rentieren von Weide zu Weide ziehen und in Zelten wohnen. In ihrem Land scheint die Sommersonne Tag und Nacht, im Winter jedoch herrscht wochenlang völlige Dunkelheit. Wir können uns ausmalen, wie sehr die Menschen nach langen dunklen Winterwochen die Sonne herbeisehnen. So ging es auch dem kleinen Lappenjungen Sampo.

Es war Winter, Weihnachten schon lang vorbei und immer noch finster. Nur der Mond schien, die Nordlichter leuchteten und die Sterne funkelten Tag und Nacht.

Eines Tages aber entdeckte Sampo einen schmalen roten Streifen am Horizont.

«Das sind die ersten Boten der Sonne», erklärten die Eltern. «Morgen wird die Sonne über dem Berg Rastekais aufgehen.»

In dieser Nacht konnte der kleine Junge nicht einschlafen. Vor seinen Augen sah er den Berggipfel im rötlichen Schein – und da fiel ihm ein, was die Mutter erzählt hatte: dort auf dem Rastekais wohnte der mächtige Bergkönig.

«Hüte dich vor dem Bergkönig,»  hatte die Mutter gewarnt, «er ist riesengross und schrecklich; ein Rentier verschlingt er auf einen Biss und kleine Jungen frisst er wie Fliegen!»

Wie schaurig, wie aufregend!  Ach, wie gern würde Sampo einmal den Bergkönig sehen, wenigstens von weitem...  Bei diesem Gedanken schlüpfte der Junge leise aus seinem Rentierfell, nahm Felljacke und Hose, Pelzstiefel und Handschuhe und schlich sich aus dem Zelt. Bitter kalt war es da draussen, der Schnee knirschte unter seinen Füssen.  Sampo hörte sein kleines Rentier scharren, und sogleich wusste er, was zu tun war: anschirren, den Schlitten anspannen,  hinaufgesprungen, und los ging die sausende Fahrt über Schnee und Eis,  bergauf und bergab zum Rastekais hin. 

Der Mond schien, die Sterne funkelten und Sampo sang vor sich hin: «Immer weiter ohne Ruh, Wölfe heulen immerzu...»  Ja, die Wölfe schlichen in der Dunkelheit um den Schlitten herum, aber kein Wolf war so schnell wie das leichtfüssige Rentier. Da geschah es, dass der Schlitten umkippte und der Junge in eine Schneewehe stürzte. Das Rentier bemerkte nichts und lief weiter in die dunkle Nacht hinein.  Als Sampo sich aufgerappelt hatte, bemerkte er, dass er am Fusse eines hohen Berges stand. Hier also war der Rastekais, hier wohnte der Bergkönig. 

Da wollte er doch hin – und schon stapfte er tapfer durch den Schnee.  Plötzlich tauchte neben ihm ein Schatten auf: es war ein grosser struppiger Wolf.  Nur keine Angst zeigen, dachte Sampo. 

Da begann der Wolf auch schon zu sprechen:  «Wer bist du winziger Knirps, und was tust du mitten im Schnee?»

«Ich bin Sampo, und ich bin auf dem Weg zum Bergkönig. Und wer bist du?» 

«Ich bin der Leitwolf des Bergkönigs. Ich habe sein Volk zum grossen Sonnenfest zusammengerufen und bin auf dem Heimweg. Wenn du willst, setz dich auf meinen Rücken, ich trage dich.»

Sampo stieg auf, und fort ging es in wildem Lauf. Der Wolf erzählte, dass heute kein Wesen einem anderen etwas zuleide tun dürfe.

«Gilt das auch für dich und den Bergkönig?» erkundigte sich Sampo.

«Gewiss,» sagte der Wolf. «Eine Stunde vor Sonnenaufgang und eine Stunde nach Sonnenuntergang bist du sicher – aber dann ist es um dich geschehen, Sampo Lappenkind!»

So kamen die beiden auf den hohen Berg; und richtig – ganz oben thronte der Bergkönig, auf dem Haupt eine Mütze aus Schneeflocken. Augen wie der Vollmond hatte er, die Nase wie ein Berggrat, den Mund wie eine tiefe Schlucht. Lange Eiszapfen waren sein Bart über dem Schneemantel, und die Hände glichen Tannenwurzeln. Sampo erschauerte, er glitt vom Rücken des Wolfes und versteckte sich hinter einem Felsblock.

Rings um den Bergkönig sassen Tausende von Trollen und Zwergen. Sie waren aus allen Ecken und Enden gekommen um die Sonne zu begrüssen. Und es waren alle Tiere versammelt die es in Lappland gab, vom grossen Eisbär bis zur kleinen Rentierfliege.

Der Bergkönig erhob sich, und die Nordlichter flammten um ihn auf. Seine Stimme klang wie dumpfes Donnergrollen: «So soll es sein, so soll es bleiben: ewiger Winter, ewige Nacht!»

Da kreischten die Trolle auf, und die Ratten und Raubtiere stimmten ihnen zu, denn es gibt ja Geschöpfe, die das Licht scheuen, weil sie lieber in der Nacht ihr Unwesen treiben.

«So soll es sein, so soll es bleiben!» heulten sie. «Die Sonne ist tot!» 

Unter den anderen Tieren breitete sich Murmeln und Murren aus: «Wir sind doch hierher gekommen, um die Sonne zu verehren!»

«Die Sonne ist tot,» brüllte der Bergkönig. «Ich beherrsche die ganze Welt mit ewigem Eis und ewiger Nacht!» 

Da hielt es Sampo nicht mehr aus in seinem Versteck. Er erhob sich und rief mit heller Stimme: «Du lügst, Bergkönig, du lügst ganz unverschämt! Gestern habe ich die ersten Sonnenstrahlen gesehen. Die Sonne kommt wieder!»

Da verdüsterte sich das frostige Gesicht des Bergkönigs, er vergass das Gesetz und erhob seinen gewaltigen Arm, um Sampo zu zerschmettern.  In diesem Augenblick verblassten die Nordlichter. Ein roter Streifen leuchtete am Horizont auf und schien dem Bergkönig in die Augen. Geblendet liess er den Arm sinken.

Und langsam erglänzte der goldene Rand der Sonne am Himmel, erleuchtete die Schneewüsten und Eisberge, die Trolle und Tiere und den tapferen kleinen Sampo. Auf dem Schnee lag ein Schimmer wie von unzähligen Rosen, und die Sonne schien in die Gesichter und tief in alle Herzen. 

Und alle, alle waren glücklich, die Sonne wiederzusehen. Lachen und Jubel erscholl überall, und des Bergkönigs Bart begann zu schmelzen.  Doch rasch war eine Stunde vorüber. Sampo sah, wie die ersten Rentiere fortliefen, und er bemerkte die gierigen Blicke der Bären und Wölfe. Neben sich sah er ein Rentier mit goldenem Geweih, und blitzschnell sprang er dem Tier auf den Rücken, fort ging es den steilen Abhang hinab.

Ist Sampo dem Bergkönig, den Bären und den Wölfen entkommen? Dessen könnt ihr sicher sein, so sicher wie der hellen Sonne, die wiederkehrt nach dem kältesten Winter, nach der längsten Nacht.  Aus Sampo ist ein tüchtiger Rentierhirte geworden. Viele, viele Male noch hat er lange dunkle Winter erlebt, doch kein Wolf, keine Nacht und keine Lüge können ihn schrecken!

aus: Wintermärchen aus aller Welt © Mutabor Verlag

Das Märchen in Schweizer Gebärdensprache:

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Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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