Die weisse Frau von Burg Wartenstein

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

In mondhellen Nächten erhebt sich bei der Burg Wartenstein, die Gestalt einer weissen Frau. Darüber erzählt man sich folgende Geschichte:

Hier lebte der letzte des Geschlechtes von Wartenstein, ein alter Mann. Er hatte ausser seiner hübschen Tochter niemand als einen weitläufigen Ver­wandten bei sich, einen Burschen von WeissenfeIs. Im Übrigen kümmerte er sich nur um seine Bauern im Tale. Trotz der Entlegenheit des Schlosses und dem bescheidenen Leben war die Schönheit der Tochter des Burgherrn weitum bekannt, und der wilde Ritter von Brandis warb um sie. Man konnte dem Mächtigen nichts abschlagen, und so verlobte man ihm das Mädchen. Darüber verfiel der von WeissenfeIs in tiefen Gram; er nahm von Vater und Tochter Abschied und zog noch in derselben Nacht ab. Allein des Fräuleins Tränen waren vor Brandis nicht unbemerkt geblieben. Er geriet in Eifer­sucht, ritt dem Abziehenden nach, überwältigte ihn und brachte ihn ver­wundet in sein Schloss, um ihn hier im Kerker sterben zu lassen. Jedoch des Freiherrn Schwester verband den Armen, speiste und pflegte ihn und war ihm zuletzt, während der Abwesenheit ihres Bruders, auch zu seinem Entkommen behilflich. Inzwischen hatten sich aber Wartenstein und Brandis entzweit, und so wur­de dem Ritter die Verlobte wieder versagt. Jetzt belagerte er ihr Schloss und stürmte es. Als der Alte die Feinde eindringen sah, stürzte er sich mit sei­ner Tochter in den Sodbrunnen. In diesem Augenblick betrat der stürmende Brandis den Burghof und sah die Unglücklichen versinken. Während ihn der Schrecken übernahm, kam ein Pfeil durch sein Helmvisier gezischt, und auch er sank tot zusammen. Ein treuer Diener des Wartensteiners hatte den Schuss getan. Das Schloss aber brannte vollends nieder. In jener ver­schütteten Grube, wo einst die Öffnung des Brunnens war, erhebt sich jetzt in mondhellen Nächten die Gestalt der weissen Frau.

Aus: P. Keckeis. Sagen aus dem Kanton Bern, Zürich 1986

 

    

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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