Der letzte Zwingherr von Vivers

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Weit ins Freiburger Unterland hinaus blickt das dachlose Viereck der Schlossruine von Vivers. Als Zeuge einer kriegerischen Vergangenheit träumt sie am steilen Saaneufer von Waffengeklirr und stolzen Herren, vom harten Frondienst der armseligen, geknechteten Untertanen, von gefangenen Zinsknechten und gebüssten Schuldenbäuerlein, von lärmenden Hetzjagden und ertappten Wilderern, die im finsteren Verlies ihre Waghalsigkeit büssen mussten. Um den letzten Zwingherrn von Vivers hat die Sage ihre Ranken gewunden.

Der letzte Beherrscher der Burg machte dem Namen «Zwingherr», den ihm das Volk beilegte, alle Ehre. Nicht zufrieden mit seinen ausgedehnten Ländereien und reichen Einkünften, beanspruchte der Vogt für sich allein die Ausnützung des Waidwerks. Kein anderer Jäger durfte das freie Wild in den weitläufigen Wäldern an den beiden Ufern des Saanetales erjagen. Ertappte der Gestrenge dennoch einen ungehorsamen Untertanen auf der Jagd, den bestrafte er schwer. Einer der Diener konnte der Jagdlust auf die Dauer nicht mehr widerstehen. Heimlich ging er dem Wilde nach; bald fing er einen Hasen, bald einen Bären oder einen Fuchs. Durch Späher erhielt der Vogt bald Kunde vom verbotenen Treiben seines Dieners. Er liess ihn mitten auf der Jagd abfassen und aufs Schloss bringen. Der Unglückliche warf sich vor seinem Herrn auf die Knie und bat um Gnade und Vergebung; er gelobte, fortan niemals mehr dem Wilde nachzugehen. Höhnisch gab der Schlossherr zur Antwort, er werde selber dafür sorgen, dass dem Ungehorsamen die Lust am Jagen vergehe. Nun befahl der Vogt, den Diener grausam zu peitschen, und liess ihn hernach in den finstern Kerker werfen. Hier sann der Gefangene erbittert auf Rettung und Rache. Bald gelang es ihm, die Zuneigung einer Schlossmagd zu gewinnen. Sie wurde in die Pläne ihres Geliebten eingeweiht. In einer finstern Nacht verhalf sie dem Diener zur Flucht. Weil die mutige Maid nun ihrerseits die Rache ihres gewalttätigen Gebieters fürchtete, überredete sie den Knecht, den Schlossherrn zu töten. Sie wollte ihm mit einem, roten Tüchlein das Zeichen geben, sobald der Vogt auf den Balkon trete, um hier nach seiner Gewohnheit sein Herrschaftsgebiet zu überschauen.

Der befreite Diener war mit dem Plan einverstanden. Er hielt sich im Schlossgraben versteckt und wartete auf das verabredete Zeichen. Als das rote Tüchlein aus dem Fenster herabwehte, tötete er mit einem gutgezielten Pfeilschuss seinen Peiniger. So endete nach der Volkssage der letzte Zwingherr von Vivers; mit ihm erlosch sein Geschlecht. Nur der dachlose Burgturm steht noch heute trotzig da, wie einst sein früherer Beherrscher.

Aber nachts, wenn die Eulen im öden Turmverlies ihr schauriges Konzert aufführen, muss der letzte Zwingherr wieder kommen. Dann steigt er in den unterirdischen Gang hernieder, der hinunter bis zur rauschenden Saane führt. Schnaufend und scheltend kommt er dort wieder hervor. Da gellt von neuem das Schmerzensgeschrei der gefolterten Untertanen, übertönt vom Hohngelächter des Tyrannen. Nach Mitternacht verhallt alles wieder; jahrhundertalte Grabesstille umfängt die trotzige Ruine, und in den Wipfeln der Tannen und Pappeln lispelt geheimnisvoll ein Lüftchen, und drunten im Tale singt die heimtückische Saane das Lied der menschlichen Vergänglichkeit im ewigen Kreislauf der Dinge.

 

Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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