Es mag so vor einem Menschenalter gewesen sein, als vier Männer von «Zurschür» in den Burgerwald hinaufstiegen. Sie wollten dort Holz rüsten für die Gemeinde Balsingen (das heutige St. Silvester). Am Abhang der Gipsfluh standen die schönsten Tannen, prächtige, schlankgewachsene Bergriesen: Wie die zierlichen Säulen eines hohen Domes streckten sie ihre zapfenbehangenen Wipfel zum blauen Himmel empor. Wohl hundertmal hatten sie den rauen Winter gesehen und den blumigen Lenz begrüsst. Die fein gerundeten Stämme versprachen gute Ausbeute an Brennholz und Trämel (Balken).
Am Fuss der Gipsfluh angelangt, legten die Holzer ihre Sägen und Äxte beiseite und hielten kurze Rast. Aus ihren Habersäcken holten sie eine «Wentele» (Flasche) Gebranntes hervor und nahmen eine kleine «Herzstärkung». Dazu assen sie Schwarzbrot und Käse oder etwa ein Stück Wurst oder Speck, wie’s halt jeder daheim gewohnt war. Der Pintenwirt, ein rüstiger Sechziger, würzte das Mahl mit seinen witzigen Erzählungen und Spässen, die von den drei Zuhörern mit lautem Gelächter belohnt wurden.
Darauf begannen die Holzfäller ihre mühsame Arbeit, die nicht ungefährlich war. Mit hellem Klang fuhren die Äxte und Beile in die braungerundeten Tannenleiber. Das helle Echo antwortete auf all die Axthiebe getreulich, so dass der stille Wald in einem fort von Widerhall belebt wurde. Tanne um Tanne fiel mit ächzendem Wehlaut sterbend zu Boden und liess eine traurige Blösse zurück.
Schon lag eine Anzahl der Bergriesen kreuz und quer auf dem weichen Teppich der grünen Moosdecke wie gefallene Krieger gebettet, da ertönte auf einmal ein krächzendes Schreien: «Gf-a-ar! Gfa-a-ar! Gfa-a-ar! Gfa-a-ar!» schallte es von der Nagelfluh herab. Erstaunt blickten die Holzer hinauf, aber kein Mensch war dort oben zu sehen.
Der Pintenwirt stellte sofort seine Arbeit ein: «Habt ihr’s gehört, ihr Mannen?», rief er seinen Gefährten zu, «Gefahr ist im Verzug; wir wollen den Platz räumen.» Aber die ungläubigen Kameraden verlachten den Mahner: «Du hast bei hellem Tag geträumt, Pintenwirt», neckten sie. «Du hast den Schrei einer Bergkrähe gehört und nicht eine Menschenstimme», meinte der Krachen Jäggel (Jakob) und emsig zimmerten und sägten sie weiter im Gehölz.
Der kluge Pintenwirt schüttelte unzufrieden seinen weissen Schopf und behielt seine Meinung für sich. Da, nach einer Weile klang es wieder schauerlich: «Gfaar! Gfaar! Gfaar!» Die Holzer hörten es wohl, dennoch liessen sie sich nicht weiter aufhalten, denn schon sank die blasse Herbstsonne hinterm blauen Bergwall des Jura hinunter. Nur den bedächtigen Wirt packte eine quälende Unruhe; die Freude am Holzrüsten war ihm vergangen. Fast schämte er sich seiner geheimen Angst. Er redete kein Wort mehr, umso schärfer liess es seine grauen Augen in der Umgebung herumschweifen. Doch den Warner entdeckte er nicht. «Ich bin ein Angsthase», schalt sich der Wirt und suchte seine innere Unruhe abzuschütteln. In sein Sinnieren schnitt zum dritten Mal der unheimliche Ruf: «Gfaar! Gfaar! Gfaar!» Diesmal klang die Warnung des Unsichtbaren noch eindringlicher. «Jetzt bleib ich aber keinen Augenblick mehr hier», rief der erschrockene Pintenwirt seinen Genossen zu, packte eilig Axt und Säge und lief weg. Nach einigem Zögern folgten ihm die drei Holzer langsam nach: noch beim Fortgehen belächelten sie die übergrosse Ängstlichkeit ihres Meisters. Kaum hatten sie ihren Arbeitsplatz verlassen, krachte es droben an der Gipsfluh. Mit donnerndem Getöse rollten Steine, Land und Schutt den Felshang herunter und verwüsteten den Arbeitsplatz der Holzarbeiter. Staub und Sand wirbelten durch die Luft, einige Steinblöcke rollten weit in die Viehweiden hinunter. Mit leichenblassen Gesichtern starrten die geretteten Holzer auf die verschüttete Arbeitsstätte. Das gefällte Holz steckte fast gänzlich in der schmutziggelben Schuttmasse. Erst beim Anbild der Verwüstung erkannten die Männer die Grösse der Gefahr, die über ihren ahnungslosen Häuptern geschwebt hatte. Voll Dank gedachten sie des gutherzigen Zwergleins, das sie mit seinem dreimaligen Warnruf vor einem grausigen Tode errettet hatte. Dem Pintenwirt baten sie ihr Spötteln ab. Schweigend stiegen die Holzfäller talwärts, noch ganz befangen vom Drucke des entronnenen Unheils. Die Lust am weiteren Reden war ihnen vergangen. Mit festem Händedruck trennten sie sich als Genossen gemeinsam durchlebter Gefahr. Ihren Lebtag vergassen sie nicht das seltsame Erlebnis am Abhang der Gipsfluh. Und ihre Kindeskinder haben die Erzählung getreulich festgehalten in der verschlossenen Kammer ihres Gedächtnisses.
Quelle: Pater Nikolaus Bongard, Sensler Sagen, Freiburg 1992.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.